
Das hätte sich Manfred Paul Kiehn vor einem Jahr wohl auch nicht träumen lassen. Nach 35 Jahren bei Mercedes und zuletzt als Industriemeister in der Applikationstechnik, war er gerade mal in die Altersteilzeit hinüber gewechselt – und hatte plötzlich und unerwartet sogleich eine neue Aufgabe gefunden. Eine, für die er kein Geld bekommt, die ihm aber oft ganz viel Freude macht und für die er eigentlich schon wieder einen eigenen Terminkalender bräuchte.
Halb ernst gemeint, halb im Scherz spricht der 60-Jährige von einem Fulltimejob, wenn er von seinem neuen „Hobby“ erzählt, das ihm vor einem Dreivierteljahr mehr oder weniger zugeflogen ist. Oder vielleicht sollte man lieber sagen, auf ihn zugerollt kam. Denn Kiehn repariert seit vergangenem Sommer für die Lilienthaler Flüchtlingsfamilien Fahrräder. Nicht immer, aber manchmal auch nach dem Motto: Aus Schrott mach’ einen verkehrssicheren, fahrbaren Untersatz.
Als wir Manfred Paul Kiehn, der nicht nur Vorsitzender der Lilienthaler Sportkonferenz, sondern auch Vorstandsmitglied beim Fußballverein SV Lilienthal-Falkenberg ist, zu Hause neben dem Sportplatz an der Mauerseglerstraße besuchen, blättert er gerade in einem Aktenordner. So aufgeräumt, wie er wenig später die Fahrradwerkstatt in seiner Garage präsentiert, so ordentlich hat er seit vergangenem Sommer, als er sein erstes Rad repariert und an einen Flüchtling übergeben hatte, die stählernen, stets bunten und meist auch schon vom Zahn der Zeit etwas angeknabberten Früchte seiner Arbeit dokumentiert. Denn bevor Kiehn die Räder – 45 sind es bis jetzt – an ihre neuen Besitzer frei Haus liefert oder im Internationalen Café in Falkenberg übergibt, bringt er sie nicht nur wieder in Schuss. Für den Fall, dass sie mal verloren gehen, verpasst er ihnen zwecks leichteren Wiedererkennens an markanter Stelle einen grünen Anstrich, bevor er sie dann für seine Akten fotografiert. Und natürlich notiert er auch, an wen der Drahtesel übergeben wurde.
Im Falkenberger Internationalen Café fing auch für Manfred Paul Kiehn vor etwa einem Jahr alles an. Nach einem Hinweis des TV Falkenberg-Vorsitzenden Rolf Grotheer auf diesen montäglichen Treff im Jugendheim sei auch er als Sportkonferenzvorsitzender dort mal hingegangen, um möglicherweise Kontakte zwischen Flüchtlingen und Vereinen herzustellen, erinnert sich Kiehn. Aus einem Mal wurden viele, viele Montage, und so gehört Kiehn seit dieser Zeit zu den regelmäßigen Besuchern des Cafés, die dort ihre Unterstützung anbieten. So wie er dann auch einmal einsprang, als jemand als Hilfe beim Fahrräderreparieren gesucht wurde. Doch statt nur zu helfen, übernahm Kiehn kurz darauf selbst den Freizeitjob. Besondere Erfahrungen mit Fahrradreparaturen? Fehlanzeige. „Aber man wurschtelt sich da so rein“, sagt Kiehn ganz pragmatisch. Mittlerweile ist er nicht nur regelmäßig in Lilienthal unterwegs, um gespendete Räder abzuholen. Auch in die Nachbargemeinden und bis nach Ottersberg hat er seinen Wirkungskreis erweitert und sammelt dort gespendete Räder ein. Ab und zu gibt es aber für ihn auch bei der Gemeinde etwas zu holen: Fundräder, deren Besitzer sich nicht gemeldet haben.
Zugute kommt dem Lilienthaler, dass viele Leute ihn kennen. Und weil es sich herumgesprochen hat, womit Kiehn einen Großteil seiner Freizeit verbringt, bekommt er in jüngster Zeit immer häufiger auch mal einfach so ein Rad geschenkt. „Oder es stand auch schon mal ein Fahrrad bei mir auf dem Hof, und dann traf ich irgendjemanden, der meinte: ,Du, ich hatte dir da ein Rad hingestellt.“ Und sollte eines der Räder doch mal nicht viel mehr als Schrottwert haben, dann finde er immer noch das eine oder andere zum Abbauen, um sein Ersatzteillager aufzufüllen.
Apropos Ersatzteile: Wenn er tatsächlich mal in seinem Fundus irgendwas nicht vorrätig hat oder er einen Tipp braucht, wenn es etwas komplizierter wird, dann, so erzählt Manfred Paul Kiehn, bekomme er auch durchaus Unterstützung von den beiden ortsansässigen Fahrradhändlern Wiegetritt im Ortskern und Kück in Falkenberg. Dort kauft er auch hin und wieder Ersatzteile, wobei ihm die Händler entgegen kämen. „Mit denen kann man gut zusammenarbeiten“, weiß er nach einigen Monaten als Hobbyschrauber. Kosten für Einkäufe bekommt Kiehn vom Internationalen Café ersetzt, dass er neben jeder Menge Zeit auch eigenes Geld in die Sache reinsteckt, darüber will er am liebsten gar nicht reden.
Sozusagen als Zeichen der Wertschätzung müssten die Flüchtlinge pro Fahrrad zehn Euro zahlen. Aber wer etwa in Lüninghausen untergebracht sei, der wisse einen solchen fahrbaren Untersatz auch durchaus zu schätzen. Viele Flüchtlinge konnten zunächst gar nicht radfahren, weiß Kiehn, doch hätten sie es ganz schnell gelernt. Dass es auch schon mal vorkomme, dass sie Einzelteile der Räder für ein paar Euro verscherbelten, nimmt Kiehn ein wenig verständnislos, aber eben auch gelassen zur Kenntnis. Und die Unselbstständigkeit mancher Flüchtlinge in Bezug auf kleinere Reparaturen verbucht Kiehn ebenfalls anscheinend mit einer Mischung aus Verwunderung und Humor. „Wenn du sie dann wieder auf ihren Rädern siehst und vor allem in die strahlenden Kinderaugen schaust, dann hast du auch wieder Lust, was zu machen.“