
Osterholz-Scharmbeck. Das Fahrrad könnte zu einem der großen Gewinner der Corona-Krise avancieren. Wenn die Hersteller ein Problem haben, dann jenes, die große Nachfrage besonders nach E-Bikes zu befriedigen. In den Städten vor allem meiden viele Menschen neuerdings den öffentlichen Nahverkehr, nicht wenige von ihnen, um aufs Fahrrad umzusteigen.
Dass die Infrastruktur mit diesen aktuellen Entwicklungen nicht Schritt halten kann, dokumentieren Umfragen wie der „Fahrradklima-Test“ des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). In der Regel alle zwei Jahre ruft der verkehrspolitische Verein mit Unterstützung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur Radfahrer dazu auf, sich über die persönlichen Erfahrungen in ihrer Kommune besonders zu Themen wie Sicherheitsgefühl, Komfort und Verkehrsinfrastruktur zu äußern. Noch bis zum 30. November sind interessierte Bürger aufgerufen, sich über die Internetseite www.fahrradklima-test.adfc.de an der Online-Umfrage des ADFC zu beteiligen. Diesmal gibt es auch das Sonderthema Corona. Fördert die Stadt das Radfahren, um es aus Gründen des Infektionsschutzes als Alternative zum ÖPNV aufzuwerten?
Der „Klimatest“ kann mehr, als ein Stimmungsbild zu entwerfen. Er gibt Politik und Verwaltung wertvolle Daten für die Stadtplanung an die Hand. Die Ergebnisse des ADFC-Fahrradklima-Tests 2020 werden im Frühjahr 2021 in Berlin bekannt gegeben. Ausgezeichnet werden die fahrradfreundlichsten Städte nach sechs Einwohner-Größenklassen sowie diejenigen Städte, die seit der letzten Befragung am stärksten aufgeholt haben. Das Städteranking und die detaillierte Notenvergabe der Radfahrenden haben sich als wichtiges Zufriedenheitsbarometer für fahrradfreundliche Städte etabliert. Beim ADFC-Fahrradklima-Test 2018 lagen Bremen, Karlsruhe, Göttingen, Bocholt, Baunatal und Reken jeweils in ihrer Größenklasse vorn. 2016 war erstmals auch Osterholz-Scharmbeck vertreten und landete mit einer Note von 3,9 auf Platz 242 in der Kategorie der 364 teilnehmenden Städte mit weniger als 50 000 Einwohnern.
Der ADFC-Kreisverband Osterholz sieht auch diesmal für „seine“ Stadt noch Luft nach oben. Für Radfahrer sei das Klima in der Stadt nicht gerade prima, findet Vorstandsmitglied Klaus Plump. Er weiß zwar von vielen Berufspendlern aus Osterholz-Scharmbeck, dass sie vom ÖPNV aufs E-Bike gewechselt sind – trotz der nicht gerade einladenden Infrastruktur. Beim Fahrradklima-Test wird auch nach Abstellmöglichkeiten gefragt, ob eine Mitnahme des Fahrrades im öffentlichen Nahverkehr möglich ist und ob fürs Radfahren geworben wird. Plump selbst hat zwar nicht zu allen 27 Fragen negative Bewertungen abgegeben, kommt aber nach wie vor zu dem Schluss, „dass Fahrradfahren in Osterholz-Scharmbeck keinen Spaß macht“. Auch sein Vorstandskollege Jörg Kappmeyer übt Kritik am „Investitionsstau“. Die Stadt müsse mehr tun, um den Komfort und die Sicherheit für die Radfahrer auf den Straßen zu erhöhen. Denn genau dort gehörten sie hin, seitdem die Radwege innerorts praktisch abgeschafft wurden. Plump: „Die Straße gehört nicht dem Auto allein. Bei vielen Autofahrern ist das aber noch nicht angekommen. Sie hupen den Radfahrer weg, um ihn auf den Radweg zu zwingen, mag auch gar keiner vorhanden sein.“
Weil es schwierig sei, etablierte Verhaltensmuster aufzubrechen, hat der ADFC Osterholz im Sommer eine „Poolnudel-Tour“ durch die Kreisstadt gestartet. ADFC-Mitglieder waren auf mehreren Routen in der Stadt unterwegs, um mit auf Gepäckträgern geklemmten Poolnudeln zu zeigen, wie sich ein seitlicher Abstand von 1,50 Metern darstellt.
Nach in diesem September veröffentlichten Umfrage-Ergebnissen des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (Infas) findet eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung (99 Prozent), dass Maßnahmen erforderlich sind, damit mehr Kinder mit dem Rad zur Schule fahren. Breitere und vom Autoverkehr getrennte Radwege (71 Prozent) sowie die Einrichtung von Fahrradstraßen (54 Prozent) sind dabei die wichtigsten Forderungen. Ein Drittel der Bundesbürger hält es laut Infas generell für unsicher, wenn Kinder mit dem Fahrrad zur Schule fahren.
Der Aussage „Für Kinder ist es das Beste, wenn sie möglichst eigenständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen“, stimmten 81 Prozent der Bevölkerung zu. Unter den Personen mit schulpflichtigen Kindern sind es sogar 83 Prozent gewesen, zeigt die vom ADFC in Auftrag gegebene Studie. Der Verein setzt sich für bessere Schulradwege ein. Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork: „Wir wissen aus anderen Studien, dass über 40 Prozent der Kinder mit dem Auto zur Schule gebracht werden – aber über 80 Prozent finden, dass ein selbstständig zurückgelegter Schulweg eigentlich die beste Option ist. Es muss Verkehrs- und Bildungspolitik alarmieren, dass Eltern hier wider besseren Wissens handeln.“ Mehr als drei Viertel der Bevölkerung (77 Prozent) denken, dass mehr Eltern ihre Kinder mit dem Rad zur Schule fahren oder zu Fuß gehen lassen würden, wenn die Schulwege sicherer wären.
Die Stadt Osterholz-Scharmbeck stellt zu den genannten Themen eigene Untersuchungen an, allerdings mit dem erklärten Ziel, die Interessen der verschiedenen Verkehrsteilnehmer unter einen Hut zu bringen. Das Instrument dafür soll der Verkehrsentwicklungsplan sein, der die neuen Anforderungen an die Mobilität in den Blick nimmt. An diesem Gestaltungsprozess sollen neben der Stadtverwaltung die Politik und verschiedene Institutionen mitwirken. Mit der Fertigstellung des Verkehrsentwicklungsplans wird für 2021 gerechnet. Für die sukzessiv erfolgende praktische Umsetzung wird ein Zeithorizont von einem Jahrzehnt und mehr angenommen. Frank Wiesner und Jens Brendler vom Bauamt haben angekündigt, „einige Elemente vorzuziehen, die sich aus dem Prozess ergeben“.