
Herr Brandes, macht der Lockdown dick?
Mirko Brandes: Schwer zu sagen, dafür müsste man das Essverhalten im Zusammenhang mit dem Lockdown erforschen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass aus weniger Bewegung eine Gewichtszunahme folgt, könnte man sagen: Ja, der Lockdown macht dick.
Sie sagen, Kinder und Jugendliche bewegen sich zu wenig. Woran machen Sie das fest?
In einer repräsentativen Studie, die Daten aus dem ganzen Bundesgebiet erhoben hat, wurde festgestellt, dass der Umfang an Bewegung bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit zwar zugenommen hat. Allerdings ist die Bewegungsintensität, die wichtig ist zur Entwicklung von motorischen Fähigkeiten und Fitness, dramatisch eingebrochen.
Moment, mehr Bewegung? Das müssen Sie erklären.
Wir haben gesehen, dass die Kinder beim ersten Lockdown im Frühjahr nicht mehr sechs oder acht Stunden in der Schule gesessen haben und somit die Möglichkeit hatten, sich mehr zu bewegen. Am Tag sind es zehn bis zwölf Minuten mehr gewesen. Allerdings waren das nur einfache Bewegungen. Die sportliche Belastung hingegen, die das Herz-Kreislauf-System in Gang bringt und positive Effekte nach sich zieht, ist deutlich zurückgegangen.
Welche Formen von Bewegung meinen Sie?
Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ist eine Bewegungsintensität im mittleren bis hohen Anstrengungsbereich wichtig. Man sagt, dass Kinder sich täglich 60 Minuten in diesem Bereich bewegen sollen. Und das ist derzeit nicht der Fall, weil zum Beispiel die angeleitete Zeit im Schulsport oder im Verein weggefallen ist.
Gilt das für Kinder in allen Regionen?
Die Beobachtungen machen wir bei Kindern in ganz Deutschland. Wir stellen aber fest, dass Kinder in dicht bebauten Wohngegenden mit wenigen Grünflächen, besonders benachteiligt sind. Kinder hingegen, die im ländlich geprägten Raum wohnen und mehr Spielflächen zur Verfügung haben, sind zumindest im ersten Lockdown im Frühjahr auf eben diese Flächen ausgewichen. Wir befürchten aber, dass der Lockdown im Winter noch stärkere Auswirkungen haben wird als der im Frühjahr.
Ist das denn ein Ergebnis des Lockdown oder des Winters? Wenn es kalt ist, ist man ja generell weniger draußen als im Sommer.
Das stimmt. Wir haben gesehen, dass viele Kinder den Wegfall der Sportangebote in der Schule und im Verein im ersten Lockdown kompensiert haben. Der Anteil an nichtorganisiertem Sport im Freien hat sich in dieser Zeit sogar vervierfacht. Die Kinder haben sozusagen ihr grünes Umfeld wiederentdeckt. Diese Kompensation, so vermuten wir, findet im Winter nicht statt. Zahlen haben wir dazu noch nicht. Aber wenn man sich umschaut, sieht man die Kinder draußen zurzeit nicht mehr.
Welche Folgen hat so ein Bewegungsmangel?
Kurzfristig betrachtet geht die allgemeine Fitness zurück. Alltägliche Wege wie das Treppensteigen oder auch die Tour mit dem Fahrrad werden als anstrengender empfunden. Und somit kostet es die Kinder zunehmend mehr Überwindung, diese Wege zu bestreiten. Damit bildet sich ein Teufelskreis aus. Des Weiteren wissen wir, dass für Kinder Bewegung wichtig ist, um motorische Fähigkeiten wie Balancefähigkeit, Kraft, Ausdauer, Koordination zu entwickeln.
Können die Kinder das wieder aufholen?
Möglicherweise. Es könnte einen Schub geben, wenn die Sportvereine erst einmal wieder aufmachen. Aber es ist immer schwierig, zunächst etwas einbrechen zu lassen und es dann wieder aufholen zu müssen. Wir wissen, dass Kindheit und Jugend prägend sind für das Bewegungsverhalten im Erwachsenenalter. Wer sich in jungen Jahren viel bewegt hat, wird das auch als Erwachsener tun. Genauso sieht man, dass Menschen, die sich als Kind wenig bewegt haben, auch als Erwachsene zu wenig Bewegung haben. Und bei diesen Menschen treten dann Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und andere Zivilisationserkrankungen häufiger auf.
Was muss jetzt passieren? In Zeiten von Homeschooling ist an Schulsport ja gar nicht zu denken.
Das sehe ich anders. Andere Länder zeigen, dass es durchaus möglich ist, auch in der Pandemie Sportunterricht anzubieten. Ich habe den Eindruck, dass bei uns der Sportunterricht in der Schule immer als erstes gestrichen wird. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass nur zwei bis drei Prozent der Kinder bei uns im Lockdown Onlinesportunterricht erhalten haben. Andere europäische Länder haben es auf Werte von 30 bis 40 Prozent geschafft. Wir sollten auch darüber nachdenken, wie wir zumindest für Heranwachsende Angebote über die Vereine schaffen. Das ist dann sicher nicht das Handballtraining in der kleinen Halle. Aber man könnte überlegen, Alternativeinheiten im Freien zu absolvieren, einige Vereine haben das ja bereits gemacht.
Und der Infektionsschutz?
Der muss an erster Stelle stehen. Aber wir können nicht einfach sagen: Sport geht nicht. Wir müssen konstruktiv nach Lösungen suchen. Etwas ganz zu schließen kann immer nur der allerletzte Ausweg sein. Man könnte zu zweit oder in der Familie Sport machen. Und auch die Vereine und die Schulen können dazu beitragen, wieder mehr Bewegung in den Familienalltag zu bringen.
Können wir und unsere Kinder die Wende noch schaffen?
Das Schöne an Bewegung ist, dass es nie zu spät ist, damit anzufangen. Sicherlich würde ein Leistungssportler, der ein Jahr lang nicht trainieren durfte, Schwierigkeiten haben, sein früheres Leistungsniveau zurückzuerlangen. Aber das trifft ja auf die wenigsten zu. Wir Menschen passen uns schnell an. Daher lohnt es, auch jetzt im Winter anzufangen. Denn mit jedem Tag, den man wartet, wird die individuelle Leistungsfähigkeit weiter abnehmen.
Rechnen Sie mit Langzeitfolgen dieser Pandemie?
Die Folgen der Pandemie im Bewegungssektor, und die gesundheitlichen Folgen in der Bevölkerung werden wir erst später sehen. Aber dann ist es eben auch schon passiert. Daher ist es wichtig, dass wir jetzt was unternehmen und auch unter Präventionsaspekten auf möglichst viel Bewegung setzen. Das ist auch unter psychischen Aspekten wichtig. Denn der Lockdown ist auch in dieser Hinsicht eine Belastung. Und es gibt Hinweise darauf, dass Menschen, die fit sind, im Falle einer Covid-19-Erkrankung mit einem milderen Verlauf rechnen können.
Jetzt will ich mich bewegen. Wie fange ich an?
Viele Sportvereine haben Onlineangebote, die ich nutzen kann. Es gibt Blogs, die Bewegung in Pandemiezeiten thematisieren. Am schönsten ist es, zu zweit oder in der Familie was zu machen. Da kann man sich gemeinsame Ziele setzen. Zum Beispiel ein Kilometerziel, das alle zusammen in einer Woche mit dem Fahrrad erreichen wollen. Man kann in seinen Tagesablauf, auch ins Homeschooling, Bewegungspausen integrieren. Entscheidend ist, dass man Dinge macht, die Spaß machen. Denn dann fällt es leichter, die Bewegung öfter zu machen.
Das Interview führte André Fesser.
Dr. Mirko Brandes (44) ist Sportwissenschaftler und forscht am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen. Daneben arbeitet er als Bewegungscoach. Er lebt in Lilienthal.
Zwei Online-Veranstaltungen
Bei zwei kostenlosen Online-Veranstaltungen möchte Mirko Brandes Informationen und Tipps geben, um Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der Pandemie-Zeit in Bewegung zu bringen. Wie kann man unter Lockdown-Bedingungen und ohne eine Erhöhung des Infektionsrisikos Sport machen? Wie kann man trotz der Einschränkungen die eigene Fitness steigern und die Folgen einer möglichen Corona-Infektion mildern?
Wie kann man Kinder und Jugendliche motivieren, nach draußen zu gehen und sich zu bewegen? Bei dieser Online-Veranstaltung soll es Gelegenheit geben, Fragen zu stellen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Am Freitag, 15. Januar, 19 Uhr, steht Bewegung für Erwachsene und Senioren im Mittelpunkt. Am Sonnabend, 16. Januar, 19 Uhr, soll es um Bewegung für Kinder, Jugendliche und Familien gehen. Die Zugangsdaten für die Online-Veranstaltungen sind auf Brandes' Website www.bewegungscoaching365.de zu finden.