
Wilstedt. Jörg Lemmermann ist es leid, ewig und immer wieder die gleichen Sätze zu sagen. Muss er aber, draußen in der Feldmark, wenn er sieht, dass Spaziergänger mit nicht angeleinten Hunden quer über die Felder laufen. Oder ihre Vierbeiner im Hochzeitswäldchen an der Wörpe frei stöbern lassen. Ein typischer Lemmermann-Satz lautet dann in etwa so: „Bitte bleiben Sie auf den Wegen und lassen Sie Ihren Hund nicht von der Leine.“
Der 51-jährige Wilstedter sagt das nicht zum Spaß, wie er betont. „Und schon gar nicht, um die Menschen in ihrem Freiheitsdrang, der in diesen Corona-Zeiten besonders groß ist, zu beschränken“, schiebt er hinterher. Nein, er sorge sich um die Wildtiere, die da draußen leben. Lemmermann ist Jäger und als Revierpächter und Hegeringleiter für den Wildbestand verantwortlich.
Das Problem: Wildtiere wie das Reh hätten besondere Strategien entwickelt, um Kälte und Schnee zu trotzen. Dazu gehöre gerade in diesen Tagen Ruhe. Würden die Tiere in ihren Rückzugsräumen aber aufgeschreckt, sei das sehr kräftezehrend, so Lemmermann. Der Winter mit seinen kurzen Tagen sei vor allem für Vegetarier wie das Reh eine schwere Zeit. Sogar der Herzschlag der Tiere werde langsamer, um in der kalten Jahreszeit Energie zu sparen. Mit ihrer Energie haushalten müssten auch andere Wildtiere, wie Feldhase, Rebhuhn und Wasservögel. So suchten beispielsweise Höckerschwäne auch auf Winterrapsflächen nach Grünfutter.
Rehe versuchten zudem, Energie zu sparen, indem sie Spaziergänger näher an sich heranlassen und sich wegducken. „Sie flüchten erst in letzter Sekunde“, sagt Lemmermann. Den Energieverlust nach einer Flucht müssten sie ausgleichen. Finden sie nicht ausreichend Nahrung, knabberten sie an Bäumen. So entstünden Schäden.
Dass die Spaziergänger, die sich nicht ans Wegegebot halten, nicht bloß eine abstrakte Gefahr darstellen, sondern eine ganz und gar reale, erklärt Lemmermann so: „Wir hatten allein in diesem Jahr schon elf Wildunfälle auf der K 150 zwischen Wilstedt und Huxfeld.“ Dabei sei ein Drittel der Rehe zu Tode gekommen, die er und sein Revierkollege Stephan Kück-Lüers in diesem Jahr hätten schießen sollen. „Der Straßenverkehr ist hier der erfolgreichste Jäger“, sagt Lemmermann. Leider nehme die Straße nicht unbedingt die kranken und schwachen Tiere, sondern alles, was nicht schnell genug sei.
Die hohe Zahl an Wildunfällen führt Lemmermann darauf zurück, dass die Rehe durch Spaziergänger, aber auch durch Quadfahrer, aus ihren Rückzugsgebieten gedrängt würden. „Weil sie gestört werden, verlassen die Rehe den Wald. Sie werden in die Agrarsteppe auf der anderen Straßenseite hinausgedrängt, wo sie aber keine Deckung finden, sodass sie erneut die Kreisstraße queren.“ Die geschehe morgens und abends in der Dämmerung – ausgerechnet dann, wenn besonders viele Autofahrer unterwegs seien. Dieser intensive Wildwechsel finde zu einer Zeit statt, in der noch nicht einmal Revierkämpfe für Bewegung sorgten.
Lemmermann betont: „Ich habe nichts gegen Hunde, und ich habe nichts dagegen, wenn Hunde frei herum laufen.“ Doch sollten die Hunde dicht beim Menschen bleiben, und vorzugsweise sollten Spaziergänger in Wilstedt die Wege am Ortsrand benutzen. „Dort stören sie garantiert kein Wild, weil es dort keins gibt“, sagt Lemmermann. Dass Hunde sich immer wieder an Ecken herumtreiben, in denen sie nichts zu suchen haben, belegten Aufnahmen von Wildkameras. „Wenn die Kameras mehr Hunde als Wild dokumentieren, wird's gruselig“, findet Lemmermann.
Er stelle eine zunehmende Naturentfremdung bei den Menschen fest. „Die Leute kennen die ökologischen Zusammenhänge nicht mehr, sie haben daher oft auch kein Problembewusstsein.“ So erkläre sich die Rücksichtslosigkeit, die einige in der freien Natur an den Tag legten. „Rücksichtnahme ist die einfachste Form des Naturschutzes“ ist daher ein anderer Lemmermann-Satz, der regelmäßig in freundlichem Ton rund um Wilstedt zu hören ist.
Erlebnisse eines Jägers
Jörg Lemmermann kommt als Jäger in Wald und Feld mit vielen Menschen zusammen, von denen er etliche um Rücksichtnahme gegenüber der Tierwelt bitten muss. Trotz seiner langjährigen Erfahrung hat er immer wieder Erlebnisse, die ihn aufs Neue verblüffen. So habe er neulich einen jungen Vater getroffen, der mit seinem kleinen Kind und zwei frei laufenden Hunden am Hochzeitswäldchen unterwegs war. Er wisse, was er tue, habe ihm der Mann geantwortet, sein Kind gehe schließlich in den Waldkindergarten. Einen anderen Mann traf er im Sommer am 2. Moordamm, als der gerade seinen Hund zum Suchen losschicken wollte. Er verbitte sich solche Ratschläge, habe der auf Lemmermanns Bitte um Rücksichtnahme entgegnet, er sei Arzt und gerade mit Corona sehr belastet. Außerdem gebe es in der Gegend doch gar keine Rehe. Darauf Lemmermann: „Das ist doch kein Wunder, Sie haben sie ja gerade verscheucht.“ Und kürzlich hat Lemmermann kurz vor Mitternacht im Außenbereich einen Mann mit Hund, Warnweste und Nachtsichtgerät angesprochen. „Der gab mir zurück, ich wolle doch nur in Ruhe jagen.“ Und dann war da noch dieser Mann, der mit einem Pferdeanhänger vorgefahren sei, aus dem er fünf große Wolfshunde rausgelassen habe.