
Ursprünglich sollten dem Gesetz nach "die in bestimmten Wohnheimen lebenden nicht auskunftsfähigen Personen im Rahmen des Zensus 2011 stellvertretend über die Leitung der Einrichtung befragt" werden.
"Das ist eine Gedankenlosigkeit, die entmündigend wirkt", hatte sich Ingo Lange beklagt, der Behindertenbeauftragte des Fleckens Ottersberg. Rückendeckung bekam er von Stefan Bachmann, dem Leiter des Parzival-Hofs in Ottersberg: "Schließlich können und wollen unsere 63 Bewohner die Angaben selbst machen." Mit der Auskunftspflicht der Heimleiter über die Köpfe der Behinderten hinweg hätte das Zensusgesetz seiner Meinung nach die Behindertenpolitik der vergangenen 25 Jahre untergraben.
Ende Mai hatte Bachmann deshalb beim Landkreis Verden schriftlich Widerspruch gegen die Form der Befragung eingelegt. Seine Begründung: die pauschale Auskunftspflicht der Heimleiter verstoße gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. "Darin heißt es, dass allen Menschen von vornherein die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang zu ermöglichen ist", so Bachmann. Sollten Behinderte keine Auskunft geben können, "haben sie außerdem einen gesetzlichen Vertreter, der das für sie tun kann. Da braucht es keinen Heimleiter".
Nur zwei Einrichtungen in Niedersachsen waren mit dem Zensusgesetz nicht einverstanden: der Parzival-Hof in Ottersberg und der Verein Lobetalarbeit in Celle. Sie wandten sich an Karl Finke, den Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen. Der ist der Ansicht "Die Befragung der Heimleiter über die Köpfe der Behinderten hinweg raubt Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Selbstbestimmung."
In Abstimmung mit der Fachgruppe Zensus beim Landesbetrieb für Statistik und Kommunikationstechnologie Niedersachsen (LSKN) sei deshalb ein neues Verfahren für die Volksbefragung vereinbart worden. Demnach sei nun die Befragung mit der Einrichtungsleitung im Beisein der einzelnen Bewohner geplant. Die Vorgehensweise sei "bundesweit ein Novum", sagt Karl Finke. Die Einrichtungen in Celle und Ottersberg hätten überaus "aufmerksam gehandelt". Niedersachsen übernehme damit eine Vorreiterrolle in Deutschland. Finke: "Ich gehe davon aus, dass jetzt auch die restlichen Bundesländer nachziehen werden."
Wie Stefan Bachmann berichtet, sollen die Bewohner des Parzivalhofes demnächst persönlich von einem Interviewer befragt werden. Jeder Einzelne könne dann selbst entscheiden, ob bei der Befragung eine Vertrauensperson dabei sein solle oder nicht. Nicht auskunftsfähigen Personen würde ein gesetzlicher Betreuer zur Seite gestellt.
Eine, die sich über ihr neues Auskunftsrecht besonders freut, ist Parzival-Hof-Bewohnerin und Heimbeiratsmitglied Sarah May. "Ich kann das alleine", ist sie überzeugt. Angaben zu ihrem Namen, Geschlecht, Geburtsstaat und -ort, Staatsangehörigkeit, Familienstand, Wohnverhältnissen sowie das Bezugsdatum der Wohnung - das alles schreckt sie nicht. "Jedes Jahr erstellen wir mit unseren Bewohnern detaillierte Hilfepläne, in denen sie angeben, ob und in welchen Bereichen sie wie viel Hilfe benötigen. Das ist viel komplizierter als die acht Angaben für den Zensus", erklärte Bachmann.
Kaum eine andere Behinderteneinrichtung hatte die Verfahrensweise zum Zensus hinterfragt. Laut Claudia von Kiedrowski aus der Erhebungsstelle des Landkreises Verden haben die ersten Einrichtungen ihre Erhebungen bereits Ende Mai abgeschlossen und die Daten anstandslos übermittelt. "Die Einrichtungen sehen das unterschiedlich: Demenzkranke zum Beispiel können ja gar keine Auskunft geben", so von Kiedrowski. Und ein gesetzlicher Betreuer sei eben auch nicht immer in der Nähe. "Erfragt werden Daten, die die Heimleitung kennt. Da ist es nicht unbedingt nötig, extra einen Betreuer von weit her zu berufen."
Bereits weitgehend abgeschlossen hatte Ende Mai auch die Stiftung Waldheim in Langwedel-Cluvenhagen (Landkreis Verden) die Zensus-Erhebungen, wie Carl Issing jetzt mitteilt. "Wir können die Meinung von Herrn Bachmann nachvollziehen, dass die Politik vergisst, was sie sonst immer fordert: die Teilhabe von Behinderten in allen Lebensbereichen zu gewährleisten. Gleichzeitig soll mit dem Verfahren aber auch eine Qualität im Datenschutz und in der Datenerhebung sichergestellt werden", so Issing.