
Herr Vroom, Sie sind seit mehr als 30 Jahren Übungsleiter beim Kinderturnen und erleben eine Zunahme motorischer Defizite. War das Ihrer Beobachtung nach ein schleichender Prozess?
Andreas Vroom: Ich habe darüber natürlich nicht Buch geführt. Da die Kinder mit der Einschulung zum Turnen kommen, konnte man Jahr für Jahr Veränderungen feststellen. Dieses Jahr sind die Defizite meiner Einschätzung nach auffälliger als je zuvor: Es gibt willige und bewegungsfreudige Kinder, aber manche ihrer Altersgenossen kommen bei uns gar nicht mit. Es sind nicht nur ein oder zwei Kinder, die nicht werfen, balancieren oder springen können, sondern mehr. Das Kinderturnen ist deutlich mühsamer geworden, man braucht als Übungsleiter ziemlich starke Nerven.
Die Kinder werden von den Eltern angemeldet und zum Turnen gebracht. Sie gehen offenbar davon aus, dass das ihren Kindern guttut und sie mithalten können.
Vereinzelt kommen Mädchen und Jungen zu uns, weil der Kinderarzt das empfohlen hat, beispielsweise, weil sie übergewichtig sind. Wir als Verein haben das auch forciert und Kontakte zu den Kinderärzten geknüpft. Es kommt auch schon mal vor, dass Eltern die Defizite ihrer Kinder offen ansprechen, aber das geschieht meist, wenn die Kinder wirklich krank sind. Vielen Eltern ist gar nicht bewusst, wie wenig sich ihr Kind bewegt und welche Folgen das hat.
Haben Sie den Eindruck, dass der sozioökonomische Status der Familien dabei entscheidend ist?
Ich bin kein Soziologe. Aber die Kinder, die ich betreue, kommen eher aus einem gutbürgerlichen Umfeld.
Woran liegt es, dass sich viele Kinder zu wenig zu bewegen scheinen?
Ich vermute, dass manche Eltern selbst wenig Gefallen an Sport und Bewegung finden oder die Bedeutung unterschätzen. Dann haben die Kinder meist kaum Gelegenheit, sich zu bewegen und ihre natürliche Bewegungsneugier zu stillen. Wenn das nicht schon in frühester Kindheit gefördert wird, haben die Mädchen und Jungen es später schwer, die Defizite aufzuholen. Dazu kommt, dass mehr und mehr Kinder keinerlei Ehrgeiz zeigen.
Sie verlieren wahnsinnig schnell die Lust. Sie bitten um Trinkpausen, scheuen die Anstrengung und geben auf, bevor sie richtig angefangen haben. Ich lobe schon bei den geringsten Fortschritten, damit die Kinder überhaupt am Ball bleiben. Das ist ein großes Problem. Ich habe die Aufgabe als Präsident des Landessportbunds auch angenommen, weil es mir wichtig ist aufzuzeigen, dass es eine Verbindung zwischen der sportlichen Entwicklung und späterer Leistungsfähigkeit gibt. Wenn unser Nachwuchs nicht schon im frühen Alter lernt, dass sich Leistung lohnt, mache ich mir ernsthaft Sorgen um die Zukunft.
Wie sieht es mit der Autorität der Übungsleiter aus?
Die Gruppen werden per se nicht autoritär geleitet, aber ein Beziehungsaufbau und Respekt ist mir schon wichtig. Wir wollen nicht, dass die Kinder kuschen, aber eine gewisse Struktur muss man dem Turnen schon geben. Das ist nicht immer möglich. Meine Frau hat sich zurückgezogen, weil sie keine Chance mehr sah, eine geordnete Stunde Kinderturnen anzubieten.
Wenn es bei Ihnen so aussieht, was geschieht dann erst in den Schulen und Kitas?
Zum einen passiert viel zu wenig, vor allem auch in den Kitas, denen oft die Räume für Bewegung und Sport fehlen. Die Erzieher und Erzieherinnen werden diesbezüglich nicht ausreichend ausgebildet. Sportlehrer an den Schulen haben meiner Einschätzung nach gar keine Chance, die riesige Leistungsspanne zwischen Gleichaltrigen in den Griff zu kriegen. Wir sind in meinen Turnstunden manchmal mit 15 Kindern zu dritt als Trainer, um ihnen halbwegs gerecht zu werden. Viele Kinder brauchen persönliche Anleitung. Wie soll da ein einzelner Lehrer mit 25 Kindern ansatzweise für geregelten Sportunterricht sorgen? Ich wundere mich, dass aus der Eltern- und Lehrerschaft dazu nicht mehr und deutlichere Signale kommen. Zudem ist der Sportlehrermangel untragbar.
In Bremen wird bislang vor allem beklagt, dass Kinder nicht ordentlich rechnen oder lesen lernen. Ist es im Vergleich zu diesen Defiziten nicht zu verschmerzen, dass sie womöglich auch nicht werfen können?
Sich koordiniert zu bewegen, die Balance zu halten und so weiter, lernt man lange, bevor man lesen und schreiben lernt. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Bewegungs- und kognitiven Fähigkeiten. Insofern müssen auch Bewegungslernziele festgelegt und erreicht werden, wenn man Kindern einen optimalen Start in ein selbstständiges Leben ermöglichen will.
Sie sagen, mit manchen Kindern trainieren Sie wochenlang, dennoch schaffen sie es nicht, das altersgemäße Sportabzeichen abzulegen. Kann man nicht auch ohne Sportabzeichen glücklich werden?
Das will ich nicht ausschließen. Aber man muss sich nur klar machen, dass es Berufe gibt, in denen eine gewisse körperliche Fitness Grundvoraussetzung ist. Für die kommt man dann schon mal nicht infrage. Das ist angesichts des Fachkräftemangels auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Außerdem sollte man an die hohen Folgekosten denken. Ich vertrete schon lange die Meinung, dass Kinder wenigstens bei Bedarf flächendeckend kostenlos im Sportverein Mitglied sein sollten, wobei die notwendige Förderung für zehn Euro monatlich nicht mehr ausreichend ist. Allein unser Gesundheitssystem könnte sich diese Art von Prävention locker leisten. Von den Folgen für den Leistungssport will ich gar nicht reden. Wenn sich das fortsetzt, was ich gerade erlebe, brauchen wir in einigen Jahren nicht mehr über erfolgreichen Spitzensport in Deutschland zu reden, wobei dieses nicht das größte gesellschaftliche Problem wäre.
Was können Sportvereine tun?
Wir fühlen uns gesellschaftlich verantwortlich, deshalb bieten wir Kinderturnen und vieles andere an. Aber wir haben keine gesellschaftliche Verpflichtung, die sich auftuenden Lücken zu schließen, der organisierte Sport ist autonom. Verschärft wird die negative Entwicklung durch Fehlernährung und Behinderungen der psychischen Entwicklung der Kinder. Das Sportangebot aufrecht zu erhalten oder gar auszubauen, ist im Kontext des gesellschaftlichen Wandels immer schwieriger, weil es uns zum Beispiel an Übungsleitern fehlt. Dazu kommt der jämmerliche Zustand vieler Sporthallen und der Ausstattung. Grundsätzlich muss Bewegungstraining im Elternhaus anfangen. Man sollte seine Kinder weder in Watte packen noch vernachlässigen, sondern ihrem Bewegungsdrang Raum geben und ihn fördern. Kindergärten und Schulen müssen deutlich mehr tun und deutlich besser ausgestattet werden, um aufzufangen, was Eltern nicht leisten wollen oder können.
Andreas Vroom ist seit November 2014 Präsident des Landessportbunds Bremen und Vorsitzender des TuS Komet Arsten. Der gelernte Außenhandelskaufmann und studierte Betriebswirt hat schon eine Vielzahl von Sportarten ausgeübt, auch als Wettkampfsport und sie als Trainer vermittelt. Er ist Vater von zwei Söhnen.
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