Eine Serie von Unfällen und Unterbrechungen in gleich drei aufeinander folgenden Rennen sorgte im Fischereihafen von Bremerhaven für mulmige Gefühle unter allen Beteiligten und den Zuschauern. Sollte die 60. Auflage des traditionellen Straßenrennens unter einem schlechten Stern stehen?
Abends, als die Crew um Veranstalter Hinrich Hinck Bilanz zog, wurde klar: Die Sterne standen gut. Zwar lagen zwei Fahrer noch zur Beobachtung im Krankenhaus, doch der Leitende Rennarzt Achim Strassner sprach von „normalen Rennverletzungen“ – keineswegs gravierend also und schon gar nicht lebensbedrohlich. Bei jeweils 22 Rennen am Sonntag und am Montag sind Stürze nun einmal nicht auszuschließen – man mag es bedauern, aber sie gehören zu derartigen Großveranstaltungen.
Bei nahezu idealen äußeren Bedingungen strömten an beiden Tagen zusammen mehr als 20.000 Zuschauer an die 2,7 Kilometer lange Rennstrecke, wie Pressesprecher Christoph Nagel zufrieden verkündete. Es herrschte eine friedliche Volksfeststimmung – so kurz nach dem Terroralarm bei „Rock am Ring“ am Nürburgring und dem Anschlag in London leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Auch wenn das Fischereihafenrennen für Umweltaktivisten wohl keine Vorzeigeveranstaltung ist, weil es dort laut zugeht und nach Abgasen riecht: 65 Jahre nach der ersten Auflage des Rennens lockt es die Motorradfans immer noch in Scharen in die Seestadt. Und die mehr als 400 Fahrer aus 14 Nationen lieben das Flair und den Kurs. „So ein Rennen gibt es sonst nirgends mehr“, sagt Elmar Geulen aus Euskirchen, „nicht in Deutschland und nicht in Europa.“
Abschied von Mr. Hayabusa
Für Geulen, der in der Szene besser bekannt ist als Mr. Hayabusa, weil er nur Hayabusa von Suzuki fährt, ist dieser Montag ein ganz besonderer Tag: Genau eine Woche vor seinem 60. Geburtstag verabschiedet er sich aus dem Straßenrennsport. Morgens, bei Kaffee, Nutella-Stulle und Banane zum Frühstück vor seinem Tourbus sitzend, ist er noch ganz entspannt. Er sagt, er gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge – und schäme sich seiner Tränen nicht. Acht Stunden später, nachdem er letztmals auf der Ehrenrunde ins Publikum gewinkt hat und sich dann am Streckenmikrofon von den Fans verabschiedet, verbirgt er seine Augen hinter einer Sonnenbrille.
Wie viel Wertschätzung Mr. Hayabusa in Bremerhaven erfährt, ist abzuzählen an den vielen Männern und Frauen, die sich mit ihm fotografieren lassen und sich von ihm persönlich verabschieden wollen. Ein Fotograf, der Geulen seit Jahren beruflich begleitet, mag die Motorradikone gar nicht loslassen. Mit glasigen Augen trennt er sich dann doch vom 59-Jährigen, der seit seinem schweren Unfall vor vier Jahren in Bremerhaven mit einem dreifachen Genickbruch nur noch unter größten Anstrengungen Rennen fahren kann. Noch hat er zwar die körperliche Kraft, weil er entsprechend trainiert. Doch seinen Kopf kann er nach dem Unfall nur noch um 1,5 Zentimeter nach links oder nach rechts drehen. Angesichts dieser Einschränkung können die Rennen für ihn und seine Konkurrenten sehr gefährlich werden. „Und nach zehn Minuten kann ich nicht mehr auf dem Motorrad sitzen“, sagt Geulen. Seine Lebensgefährtin, die ihren Namen nicht nennen möchte, „weil es heute sein Tag ist“, ist froh, dass das Rennfahren nun ein Ende hat.

Elmar Geulen auf seiner neuen SD-Performance-Turbo-Suzuki-Hayabusa: Mit der 500 PS starken, straßenzugelassenen Maschine wird Mr. Hayabusa demnächst auf Geschwindigkeitsrekordjagd gehen.
Doch ein Leben ohne Motorradfahren wird Mr. Hayabusa nicht führen. Neben seiner aktuellen Maschine, bei der gerade die Reifenwärmer aufgezogen sind fürs nächste Rennen, steht die Hayabusa mit ihren etwa 500 PS, mit der Geulen künftig Geschwindigkeitsrekorde aufstellen will. Geradeaus fahren, sagt er, geht noch. So will er schon in den kommenden Wochen versuchen, mit der straßenzugelassenen neuen Hayabusa seinen eigenen Rekord von 330,3 Stundenkilometern zu verbessern. Wie schnell er sein wird? „Vielleicht 340, vielleicht 350.“ Ein Problem bei der Rekordjagd: Serienreifen sind nur bis Tempo 300 zugelassen. Mr. Hayabusa bleibt sich also irgendwie treu, scheut auch weiterhin das Risiko nicht.

An beiden Tagen der Veranstaltung erlebten die Zuschauer spektakuläre Rennen, an denen auch alte Maschinen wie die AWO RS 250/1 aus dem Jahr 1953 von Jens Herfort teilnahmen.
In seinen letzten beiden Straßenrennen jedoch fährt er nicht mehr „auf der letzten Rille“, wie er es nennt. Er fährt gut mit, wird in der Klasse 1 ordentlicher 19. unter 28 Teilnehmern, überlässt die Spitze in der Königsklasse aber anderen Fahrern. Überragend dabei: der Bielefelder Thilo Günther, der mit seiner 1000er-BMW auf dem kurvigen Rundkurs einen Durchschnitt von 102,790 Stundenkilometern schafft. Weil seine schärfsten Konkurrenten Didier Grams (Limbach-Oberfrohna) wegen technischer Probleme und Julian Neumann (Langenhagen) wegen eines selbst verschuldeten Sturzes ausfallen, kommt Lokalmatador Luca Hansen aus Midlum bei Bremerhaven dem Sieger noch am nächsten. Hansen fährt auf seiner 1000er-Honda als Zweiter der Gesamtwertung sogar die schnellste Runde (1:30,668 Minuten) aller Klasse-1-Fahrer und sichert sich zudem den Gesamtsieg in der Klasse 2.
Hansen, so ist zu vermuten, wird in Bremerhaven noch häufiger triumphieren, wenn es das Rennen denn weiter geben wird. Das sei Jahr für Jahr nicht sicher, sagt Pressesprecher Christoph Nagel, denn sein Schwiegervater „Hinni“ Hinck trage das finanzielle Risiko allein, seitdem er die Veranstaltung im Jahr 2000 wiederbelebt hat. Ob Hansen eines Tages so erfolgreich sein wird wie Rekordsieger Stefan Merkens aus Düren, bleibt demnach abzuwarten. Merkens erhöhte mit seiner 1100er-Honda, Baujahr 1976, und seiner 1200er-Yamaha, Baujahr 1985, die Anzahl seiner Bremerhaven-Erfolge am Montag jedenfalls auf sagenhafte 32.
Von dieser Bilanz ist Elmar Geulen weit entfernt. Er hat 1983, bei seiner ersten Teilnahme, gewonnen – und dann wieder 2006 und 2008. Eine Legende des Fischereihafenrennens ist er trotzdem geworden. Und geht jetzt wohl, ohne wiederzukommen. „Hier kastriert auftauchen? Ich weiß nicht, ob das geht“, sagt er. So ist er eben: Er mag keine halben Sachen. Ofenbar auch nicht beim Abschiednehmen.

Auch betagte Seitenwagengespanne gingen an den Start.

Dunkle Wolken über der Rennstrecke im Fischereihafen – zum Glück nur kurzzeitig. An beiden Tagen der Veranstaltung erlebten die Zuschauer spektakuläre Rennen, an denen auch alte Maschinen wie die AWO RS 250/1 aus dem Jahr 1953 von Jens Herfort (links) oder betagte Seitenwagengespanne (Mitte) teilnahmen.