Bremen. Es war ein ganz besonderer Moment, als die deutschen Herren vor gut fünf Wochen in Rio die olympische Bronzemedaille gewannen. Timo Boll, Deutschlands Tischtennis-Aushängeschild schlechthin, feierte nach seinem vielleicht letzten Olympia-Einsatz das Edelmetall überschwänglich mit seinen Teamgefährten Dimitrij Ovtcharov und Bastian Steger. Besonders war dieser Moment aber auch aus anderem Grund: Wegen einer aufgebrochenen Nackenverletzung drohte nämlich der Ausfall Bolls – und damit die Niederlage. Boll wurde intensiv behandelt, gewann dann erst sein Doppel mit Bastian Steger und schließlich auch das entscheidende Einzel zum 3:1 gegen Südkorea. „Meine Jungs haben mich mit durchgezogen“, sagte ein dankbarer Timo Boll nach dem glücklich ausgegangenen Kraftakt.
Ende September sind für Boll und Steger die Folgen von Olympia immer noch spürbar – allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. Während der Düsseldorfer Boll die ersten beiden Bundesliga-Spiele seiner Mannschaft wegen dieser Nackenverletzung nicht mitmachen konnte, fehlt dem Bremer Steger aufgrund der wegen der Olympischen Spiele fehlenden Erholungszeit die körperliche und mentale Frische. „Nach Olympia ist eine schwierige Phase“, sagt Steger, „das kenne ich noch von London 2012.“
Am Sonntag könnte sich im direkten Duell zwischen Boll und Steger zeigen, welches Handicap das schwerwiegendere ist. Um 15 Uhr treffen in Düsseldorf die gastgebende Borussia und der SV Werder aufeinander, also die beiden Teams, die seit 2008 den deutschen Mannschaftsmeister stellen. Die Verteilung der Titel in den vergangenen acht Jahren sagt über die Rollenverteilung in diesem Spiel schon fast alles: Achtmal triumphierten die Rheinländer, nur einmal – 2013 – die Bremer. Nun zählt das Gewesene nichts, aber die aktuelle Besetzung beider Teams lässt ebenfalls keinen anderen Schluss zu als den, die Gastgeber als haushohen Favoriten zu betrachten.
Düsseldorf herausragend besetzt
Mit Timo Boll (13. der Weltrangliste), dem Österreicher Stefan Fegerl (21.), den Schweden Kristian Karlsson (27.) und Anton Källberg (84.) sowie dem Inder Kamal Achanta (76.) verfügt die Borussia über eine hochkarätige Weltauswahl, gegen die die Werderaner mit Steger (22.), Kirill Skachkov (99.), Hunor Szöcs (117.) und Constantin Cioti (137.) fast schon ein bisschen bieder daherkommen. Was bei Lichte betrachtet allerdings nicht so ist: Vor allem Steger, Cioti und dem immer besser werdenden Szöcs ist inzwischen jede Überraschung zuzutrauen – „wenn es optimal für uns läuft“, wie Steger sagt. Und an guten Tagen ist auch mit Skachkov zu rechnen. Dummerweise lief die bisherige Saison für Werder aber nicht optimal. Im Pokal gab es mit dem toll erkämpften 3:2 über Ochsenhausen zwar ein Erfolgserlebnis, doch in der Liga zum Auftakt gegen Fulda und am vergangenen Sonntag gegen Ochsenhausen zwei schmerzhafte Niederlagen. Und jetzt droht den Bremern im Duell der beiden langjährigen Freunde Boll und Steger die nächste Pleite.
„Es war uns klar, dass es angesichts der schweren Gegner zum Auftakt keine leichte Saison für uns wird“, sagt Trainer Cristian Tamas, „aber wir machen uns auch nicht abhängig von diesem einen Spiel in Düsseldorf.“ Soll heißen: Werders Verantwortliche werden auch die Ruhe bewahren, falls die Bilanz am Sonntag bei 0:6 Punkten stehen sollte. „Natürlich gibt die Tabelle kein schönes Bild ab“, sagt Tamas. Aber selbst im Fall einer weiteren Niederlage werde die Welt nicht untergehen. „Wir müssen auf uns schauen und ständig daran arbeiten, uns zu verbessern.“
Wer Tamas kennt, der weiß, dass das keine Durchhalteparole des Trainers ist, sondern schlicht die Wirklichkeit. Werder hat eine gute Mannschaft, doch im Vergleich mit der zuletzt kräftig investierenden Bundesliga-Konkurrenz eben kein Team mit Erfolgsgarantie. „Wir werden so lange wie möglich um unsere Chance auf einen Platz in der Playoff-Runde kämpfen“, verspricht Tamas. Er sagt aber nicht, dass das Halbfinale um die deutsche Meisterschaft das erklärte Ziel ist. Dafür ist die Liga inzwischen viel zu stark besetzt.
„Vielleicht kommen wir mit unserer Rolle als Außenseiter am Sonntag gut zurecht“, sagt Tamas. Steger freut sich derweil auf sein „Heimspiel“: Von 2000 bis 2006 spielte er selbst für die Borussia, bis zum heutigen Tag ist Düsseldorf seine Trainingsstätte. „Mich kennen dort alle“, sagt der 35-Jährige, „und ich kenne auch alle.“ Während der Partie aber werde die Verbundenheit zu Boll & Co. keine Rolle spielen. „Wir sind es gewohnt, auch mal Gegner zu sein“, sagt er. In Rio hat er den verletzten Boll gestützt und sich am Ende mit ihm gefreut – vielleicht kann er ihn am Sonntag ausnahmsweise ja mal ärgern.