Sie kann, immerhin, schon ihren Namen auf chinesisch schreiben. Einen Tee oder einen Saft könnte sie auch auf chinesisch bestellen. Und sagen, dass sie mal 100 Meter Hürden gelaufen ist. Im Mai hatte sich Carolin Dietrich zu einem Chinesisch-Kurs angemeldet, hatte dann aber zu selten Zeit gefunden fürs Lernen und auch gemerkt, wie schwer das ist. Chinesisch. Jedes einzelne Wort müsse man sich da mühsam erarbeiten. Eine Riesen-Herausforderung sei das, sagt sie. Aber Riesen-Herausforderungen sind ja nichts, womit Carolin Dietrich (33) auf Kriegsfuß steht. Sie sind eher das, was sie will. „Ich brauche einfach immer eine Herausforderung“, sagt sie. Sie war mal, unter ihrem Mädchennamen Nytra, die schnellste Hürdensprinterin Deutschlands. Sie braucht die Hürde, könnte man sagen, auf der Bahn wie im Beruf.
Und weil das so ist, ging es dann auch gleich im Sprinttempo von der Bahn in den Beruf. Zwei Wochen lagen im Sommer 2016 zwischen Rücktrittserklärung vom Leistungssport und dem ersten Tag im Fulltime-Job. Sie sei weder diejenige, sagt Carolin Dietrich, die sich dann erst mal eine lange Auszeit gönnt. Noch diejenige, die die Karriere nach der Karriere erst mal ausblendet und sich dann fragt: Huch, was mach' ich denn jetzt mal? Dazu hätte sie als Leichtathletin doch auch zu wenig Geld verdient, um sich diesen Luxus leisten zu können. Dazu sei sie zu ehrgeizig.
Also los. Die Riesen-Herausforderung hieß ab dem 1. Juli 2016 Marketing-Abteilung von RB Leipzig. Eine Abteilung im Aufbau und im Umbruch. „Es gab keinen Feierabend“, sagt Dietrich. Bisweilen habe sie sich beim Gedanken ertappt, dass der Leistungssport ja doch eine vergleichsweise entspannte Sache gewesen sei. Inzwischen ist sie bei RB Leipzig die „Leiterin Internationalisierung“. Auch wieder Aufbauarbeit. Dienstreisen nach New York, nach Indien, Brasilien – und im November ein drittes Mal in diesem Jahr nach China, wo der Klub vor einem Kooperationsvertrag mit einer großen Schule steht.
Dort kommt es gut an, wenn sie in der Landessprache sagen kann, dass sie mal Hürdenläuferin war. Eine erfolgreiche. Zwei Olympiastarts, EM-Dritte, Hallen-Europameisterin. Wow. Anders als mancherorts in Deutschland kommt da in China auch der rasante Aufstieg von RB Leipzig gut an. China will was werden im Fußball. „Unsere Erfolgsgeschichte ist das, was die interessiert“, sagt Carolin Dietrich, und sie kann jetzt jede Menge erzählen über Märkte und Markenbildung. Sie ist voll im Thema, so schnell wie einst an der ersten Hürde. Der Job bei RB, der sei mehr als nur ein Job für sie. Sonst könnte sie doch nicht 110 Prozent geben. Das RB-Image? Plastikklub? Nicht für sie. Sie ist Angestellte des Klubs, sie war Spitzensportlerin. Sie wisse doch, was Geld im Spitzensport für eine Rolle spielt.
Seit drei Jahren lebt sie jetzt in Leipzig. Im Grunde hat ihre Achillesferse sie dorthin gebracht. Beziehungsweise gleich beide. Die waren schon immer auch im übertragenen Sinne die Achillesferse der Hürdensprinterin Carolin Nytra. Auch schon zu den erfolgreichen Bremer Zeiten, als sie für Komet Arsten antrat und in die europäische Spitze aufstieg. 2013, mittlerweile seit drei Jahren Athletin der MTG Mannheim: Achillessehnen-OP in Köln. Und die Reha auf einem ganz besonderen Gerät der TSG Hoffenheim. Einem sogenannten Alter-G-Laufband. Das kann das Körpergewicht entlasten. Der Betreuer vor Ort: TSG-Fitnesstrainer Nicklas Dietrich. Nytra, inzwischen nicht mehr liiert mit dem Weitspringer Sebastian Bayer, und Dietrich wurden ein Paar. Sie heirateten 2014 in Heidelberg. 2015 zog das Paar nach Leipzig um.
RB-Sportchef Ralf Rangnick hatte Nicklas Dietrich angesprochen – und Leipzig war auch eine Option für seine Frau. Dort gab es den Hürden-Bundestrainer der Männer Jan May, dort gab es den RB-Geschäftsführer Oliver Mintzlaff. May sollte bei der, wie Carolin Dietrich sagt, „trainingsalten Athletin“ noch mal einen frischen sportlichen Impuls setzen. Mintzlaff, seit 2010 ihr Manager, setzte den beruflichen Impuls. Carolin Nytra wechselte vom Stadtmarketing Mannheim auf einen Halbtagsjob in der CSR-Abteilung von RB.
Der Plan, sportlich noch einmal durchzustarten und mit der dann dritten Olympiateilnahme 2016 die Karriere zu beenden, missriet. Nach der Achillessehne meldete sich wieder der Hüftbeuger. Schmerzte immer mehr. Durchgestartet ist sie dann trotzdem, beruflich. So wie ihr Mann. Der war auch mal Hürdenläufer, wenn auch nicht so ein erfolgreicher. Inzwischen ist er Athletiktrainer der DFB-Auswahl und bastelt mit am Großprojekt DFB-Akademie.
Durchstarten auch im Beruf. Wenn man so will: Auch hier im Hürdenwald bestehen. Carolin Dietrich glaubt, dass das nicht von ungefähr kommt. Der Leistungssport habe sie enorm geformt. Der Biss, der Fleiß, der Ehrgeiz. Tolle Momente seien das natürlich gewesen im Sport, diese Medaillengewinne und Triumphe. Aber am meisten sei sie dankbar für die Persönlichkeitsentwicklung, die damit einherging. Eine Leistungssport-DNA als DNA fürs Leben sozusagen.
Ihr Leben in Leipzig besteht jetzt für sie als Leiterin Internationalisierung natürlich nicht nur darin, dass sie dort ab und an als „Miss unterwegs“ auftaucht. Sie mag die Stadt, sagt sie. Perfekte Mischung aus lebendigem Stadtleben mit vielen Cafés, ihrer Leidenschaft, und viel Grün. Im Grünen sei man halt schnell, ohne sich wie auf dem Dorf zu fühlen. Sie ist gern und viel mit dem Hund draußen, dem Dackel Pebbles. Sie habe ja immer davon geträumt, mal in New York zu leben. Aber Leipzig, das ist schon schwer in Ordnung.
So wie einst zwischen 2006 und 2010 Bremen schwer in Ordnung war. Manchmal fährt sie noch nach Bremen. Sie ist mit der Bremer Sprinterin Jana Loock befreundet, sie besuchen sich oft gegenseitig. Nicht von ungefähr übrigens: Jana Loock sei gebürtige Leipzigerin, sagt Carolin Dietrich.
Das ist Carolin
Dietrich
Die Hamburgerin wechselte 2005 von ihrem Heimatverein LG Hausbruch-Neugraben-Fischbek zum TuS Komet Arsten nach Bremen. Sportlich ging es steil bergauf, 2007 wurde sie in Erfurt Deutsche Meisterin über 100 Meter Hürden und schaffte ein Jahr später die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking. Dort schied sie im Halbfinale aus. In Deutschland wurde sie bis 2010 vier mal in Folge Deutsche Meisterin und holte mit der Bronzemedaille 2010 bei den Europameisterschaften in Barcelona ihren größten internationalen Erfolg neben der Goldmedaille über 60 Meter Hürden bei der Hallen-EM 2011 in Paris. 2010 wechselte sie zur MTG Mannheim, schaffte 2012 erneut die Olympia-Qualifikation für London, wo sie wieder das Halbfinale erreichte. Am 9. Juni 2016 gab sie ihren Rücktritt bekannt.