Das Publikum stand und schrie. Noch Minuten nach Abpfiff füllte es den Klangtempel Estadio Santiago Bernabéu mit seinen Gesängen. Unten auf dem Rasen bildeten Spieler und Betreuer von Real Madrid eine Kette und liefen in Richtung des Fanblocks. Auf halbem Weg machten sie kehrt, das Ritual gemeinsamen Feierns ist in Spanien nicht verbreitet – und noch ist ja nur das Finale erreicht. Wobei: Was heißt nur?
Vor ein paar Monaten mussten die Regie im Bernabéu nach Abpfiff noch die Vereinshymne auf maximale Lautstärke drehen – um die Buhrufe des Publikums zu übertönen. Ein 0:4 gegen den FC Barcelona bedeutete den sportlichen Tiefpunkt, zu dem sich vorher und nachher allerlei andere Malaisen gesellten. Transferpanne um Torwart de Gea, Pokalausschluss wegen eines Aufstellungsfehlers, Fifa-Sanktion wegen unerlaubter Anwerbung Minderjähriger. Real schien zu versinken in seinem Annus Horribilis. Jetzt ist es nur noch ein Match vom elften Champions-League-Titel entfernt. Wie beim zehnten geht es im Endspiel gegen den Stadtrivalen Atlético.
Reals Weg dorthin war mit den Gegnern AS Rom, VfL Wolfsburg und zuletzt Manchester City nicht allzu steinig. Die Engländer verblüffen nach hunderten Millionen Euro Investitionen am Mittwoch beim 0:1 vor allem dadurch, weder athletisch noch mental auf Höhe des kontinentalen Spitzenfußballs zu agieren. Das Seniorentempo des übergewichtigen Yayá Touré im Mittelfeld verlieh ihrem Auftritt geradezu Slapstick-Charakter – wie auch die Einlassung des nicht minder trägen Trainers Manuel Pellegrini, allein das Glück habe entschieden. Im Sommer kommt Pep Guardiola. Auf ihn wartet viel Arbeit in Manchester.
Real reichte es jedenfalls, „sehr erwachsen“ zu spielen, wie Toni Kroos, der deutsche Weltmeister in Reihen der Königlichen, analysierte. Dieses erwachsene Spiel lässt sich als kontrolliert offensiv beschreiben, seit Zinédine Zidane auf der Bank sitzt. Der Trainer hat als Hauptverantwortlicher von Reals erstaunlichem Turnaround der vergangenen Wochen zu gelten, der aus zehn Punkten Rückstand in der Liga nur noch einen werden ließ und aus einer deprimierten Mannschaft einen Champions-League-Finalisten. Zidane hat es geschafft, nach den Verwerfungen unter Vorgänger Rafael Benítez wieder eine harmonische Arbeitsatmosphäre zu schaffen. „Der Spaßfaktor hat sich schon erhöht, das muss man deutlich sagen“, sagte Kroos. „Zizou macht einen Superjob, weil er uns seine Anforderungen sehr verständlich macht, und weil er uns absolut auf Augenhöhe begegnet. Dann gibst du vielleicht noch mal zwei, drei Prozent mehr.“
„50 zu 50“ bewertet Kroos die Chancen im Duell mit dem unbequemen Atlético, gegen das Real in der Liga seit drei Jahren nicht mehr gewinnt (zwei Remis, vier Niederlagen), das es in der Champions League aber letzte Saison besiegte – wie natürlich 2014. Die Fans im Bernabéu begannen gleich nach Abpfiff mit der Erinnerung an das Finaltrauma des Nachbarn. „Atleti, sag mir, wie es sich anfühlt?“ beginnt der einschlägige Song. Es geht wieder um die Herrschaft in der Stadt. Und in Europa.