Zum ersten Mal hat die jüdische Gemeinde die Delmenhorster zu einem Gedenktag zur Reichspogromnacht eingeladen. Überall in Deutschland brannten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Synagogen, jüdische Friedhöfe wurden geschändet und Schaufenster jüdischer Inhaber eingeschlagen. Die „Reichskristallnacht“, wie sie auch genannt wird, ist jetzt 81 Jahre her. Ein ungewöhnlicher Zeitabschnitt, um erstmals einen Gedenktag zu begehen. „Nach dem Attentat in Halle möchten wir ein Zeichen setzen und zeigen, dass in unserer Stadt und unserer Gesellschaft kein Platz für Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sein darf“, begründete Pedro Benjamin Becerra die Entscheidung. Er ist der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Delmenhorst.
Die Gedenkfeier begann am Sonnabend in der Synagoge an der Louisenstraße mit Ansprachen und wurde anschließend im Innenhof fortgesetzt. Auf einem Vorsprung an der Wand standen viele unterschiedliche Kerzen, davor bildeten weitere Kerzen einen Davidstern und auch die Gäste hielten Kerzen in den Händen. Unter den Gästen waren viele Männer mit Kippot (so die Mehrzahl von Kippa) aber auch viele Frauen mit Kopftuch. Außerdem war auch der „Nachbar“ – wie Becerra ihn nannte – Guido Wachtel gekommen. Er ist der Pfarrer der katholischen Marienkirche, die sich direkt hinter der Synagoge befindet. „Dass so viele unterschiedliche Religionen vertreten sind, beflügelt diesen Tag mit seiner schlimmen Geschichte“, bekundete Becerra seine Freude über diese abrahamitische Vereinigung.
Der evangelische Kreispfarrer Bertram Althausen begrüßte in seiner Rede die jüdischen, muslimischen und christlichen Gläubigen als „Geschwister“ beziehungsweise „Brüder und Schwestern“ und mit „Schalom“. Er zitierte in seiner Ansprache aus der hebräischen Bibel und ging auf den Leidensweg der Juden ein, der mit der Gefangenschaft in Ägypten begann, sich im Mittelalter und unter der Diktatur der Nationalsozialisten fortsetzte. „Antisemitismus ist aber nicht nur ein Angriff gegen die Juden, sondern gegen die ganze Gesellschaft“, zeigte er sich überzeugt.
Das Klima wird rauer
Dass Judenhass nach den Nazis noch lange nicht endete, betonte der SPD-Landtagsabgeordnete Deniz Kurku: „Nach 81 Jahren ist auf manchen Schulhöfen, Betrieben und an Theken das Wort Jude wieder als Schimpfwort zu hören, marschieren Neonazis immer dreister und offener durch die Straßen wie heute in Bielefeld, suchen Terroristen gezielt Menschen jüdischen Glaubens für ihre wahnsinnigen Ziele.“
In seiner Rede zitierte Oberbürgermeister Axel Jahnz aus dem Delmenhorster Kurier vom 10. November 2008, der zusammenfasste, wie am 9. November 1938 beispielsweise „der Kreisleiter der NSDAP am späten Abend eine Schar verlässlicher Partei- und SA-Angehöriger auf der Burginsel“ zusammentrommelte: „20 bis 30 Männer in Zivil sollen es gewesen sein, denen bei zwei Flaschen Korn und Tabak eröffnet wurde, dass in der Nacht die Synagoge brennen sollte.“ Der Oberbürgermeister verurteilte das damalige Verhalten der Delmenhorster mit den Worten: „Ich schäme mich dafür, dass auch Menschen in unserer Stadt zu Tätern und Mittätern wurden.“ Und korrigierte seine Aussage vom vergangenen Jahr, „dass das Klima rauer geworden ist. Leider hat der diesjährige antisemitische Anschlag in Halle nur zu deutlich gemacht, dass das Wort ‚rau‘ nicht mehr ausreicht.“
Auch Norbert Boese, der Vorsitzende des Freundes- und Förderkreises der jüdischen Gemeinde Delmenhorst, zitierte aus der Zeitung – allerdings aus denen von damals. In der einen Zeitung fand die Pogromnacht überhaupt keine Erwähnung und in der anderen reichte „die Katastrophe für unser Land und eine absolute Schande für eine zivilisierte Nation“, wie Boese die Reichspogromnacht nannte, für eine siebenzeilige Meldung.
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