Erich starb am 20. April 1943. In seiner Krankengeschichte ist von „zunehmendem körperlichen Verfall“ die Rede und davon, dass er einer „Bronchopneumonie im Anschluss an Masern“ erlegen sei. Aber wohl nicht zufällig. Denn bei dem 1940 geborenen Jungen war zunächst „angeborener Schwachsinn“ diagnostiziert worden, posthum bat der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, Carl Petri, das Reichsinnenministerium dann, den Eintrag in „mongoloide Idiotie“ zu ändern. Das Kleinkind war das jüngste Wildeshauser Opfer der sogenannten Euthanasie im Nationalsozialismus, auf dessen Schicksal der Oldenburger Historiker Ingo Harms auf Einladung des Bürger- und Geschichtsvereins und des Arbeitskreises für Demokratie und Toleranz in einem Vortrag am Dienstag im historischen Rathaus einging.
Aber Erich war beileibe nicht das einzige Opfer. Ob die Epileptiker Anna, Herbert Joseph und Josefine, die schizophrenen Hanna Anna, Heinrich, Helmut und Maria Anna, ob Anna Sophie und Georg, denen Schwachsinn attestiert wurde, oder Heinrich Friedrich, Maria und Sophie Anna, die unter verschiedenen Formen von Demenz litten: Alle diese Wildeshauser und noch mehr waren nach der nationalsozialistischen Vorstellung von einer gesunden Volksgemeinschaft nicht nur überflüssig, sondern schädlich – und sei es auch nur, weil sie Kosten verursachten. Diesen wirtschaftlichen Hintergrund hob der Experte, der seit Jahren zum Patientenmord im „Dritten Reich“ forscht, deutlich hervor: „Hinter dem ideologischen Wortgeklingel lief alles auf ökonomische Fragen hinaus.“ Das belegte er auch mit einem Zitat von Obermedizinalrat Kurt Mönch, von 1924 bis 1937 Oberarzt in Wehnen, wo all die Opfer umkamen: „Die geistig und sittlich Minderwertigen entziehen dem Staat geradezu unheimlich große Summen Geldes“, hatte der festgestellt – und zwar schon 1925. Die Rassenhygiene sei nämlich „keine Erfindung der Nazis“ gewesen, sondern eine bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommene „Pseudowissenschaft“, führte der Referent aus – die sich dann allerdings im Nationalsozialismus so richtig ausleben konnte.
In Oldenburg habe der Krankenmord dabei noch deutlich vor dem „Gnadentod-Erlass“ Adolf Hitlers vom 1. September 1939 begonnen, erklärte Ingo Harms. Umgebracht wurden Erich und all die anderen in Wehnen, der Tötungszentrale des alten Oldenburger Landes, in erster Linie indirekt durch Nahrungsentzug, der sie anfällig für alle möglichen Krankheiten machte. Wer überlebte, war zumindest oft zwangssterilisiert. Aufgrund der offenbar gezielten Vernichtung von Akten in den 1990er Jahren im Gesundheitsamt Oldenburg ließen sich allerdings nur zwei derartige Einzelfälle aus Wildeshausen eindeutig nachweisen.
Der Historiker ging jedoch nicht nur auf die Opfer ein, sondern auch auf die Täter. Etwa Karl Nieberding, Amtsarzt des Landkreises Oldenburg, der später auch im Ghetto Litzmannstadt (Lodz) und in der Tötungsanstalt Bernburg tätig war und nach dem Krieg ebenso unbehelligt blieb wie Carl Behrens, Oberlehrer an der Taubstummenanstalt in Wildeshausen. Er habe Behrens in den 1960ern kennengelernt, „ein ganz normaler Mensch, nett, nicht weiter auffällig“ sagte einer der rund 40 Zuhörer im Anschluss, „das hat mir jetzt zu denken gegeben.“