Hatten. Nachts, wenn nur die Sterne über einem leuchten und die Erde 10 000 Meter unter einem liegt, fängt man an nachzudenken. So zumindest ging es Bernd Tietzel in seinem Berufsleben. Als Pilot bei der Lufthansa ist der Hatter 20 Jahre Langstrecke geflogen. „Die Fliegerei war nie Arbeit, das war Spaß“, sagt der heute 66-Jährige. Doch er räumt ein, dass das Überfliegen von Zeitzonen auch anstrengend war: „Man ist ständig übermüdet.“ Das sei insbesondere auf Nachtflügen zurück aus den USA der Fall, wenn alles schläft und man selbst wach bleiben muss. Doch gerade diese Momente sind es, die ihm eine andere Sicht auf die Welt gegeben haben und Inspiration waren. Inspiration für Lieder, die Tietzel zu Beginn seines Ruhestandes geschrieben hat.
Das ist inzwischen zehn Jahre her. Doch erst jetzt hat er zehn seiner Lieder auf einer CD namens "Wer Rückgrat hat, der hat auch Gräten" gebracht, die am 6. April auf dem Bremer Label "Harbour Records" erscheint. "Die Musik von Bernd Tietzel misst den Raum zwischen Folk, Jazz und Pop neu aus", heißt es in der Ankündigung. In erster Linie aber sei er ein Botschafter. Seine Lieder seien Lebensphilosophie und stets untermalt von der Lebenserfahrung eines Menschen mit wachen Augen. Diese Lebenserfahrung springt einem beispielsweie in dem Song "Viel zu schnell" entgegen, der auf das Phänomen des Burnouts anspielt, in dem Tietzel Monate und Jahre vorbeirauschen lässt, und zwar viel zu schnell. "Das ist sicher ein Text, den man nicht mit 20 Jahren schreibt", ist sich Tietzel selbst sicher.
Doch der Hatter Musiker hält in seinen Liedern auch noch andere Botschaften bereit. So thematisiert er in "Kassenbons" das Stillen einer Sucht, macht in "Von Kopf bis Po" seiner Frau eine Liebeserklärung und kritisiert in "Drei genügen" das Übermaß an Auswahlmöglichkeiten. Für letzteren Song hat Tietzel einigen Ärger mit seiner Familie bekommen. "Ich habe vier Kinder", erklärt der Musiker. Das hatte er beim Schreiben des Textes nicht bedacht. "Die Idee war zu fragen: Warum kann man die Dinge nicht einfach mal reduzieren?", erläutert der Musiker. Seine jüngste Tochter sei keinesfalls gemeint gewesen.
Die erste Feierabendband
Die ersten musikalischen Gehversuche hat Bernd Tietzel bereits als Teenager gesammelt. "Mit 13 Jahren hatte man eine Band. Das war in den 60er-Jahren so üblich", erzählt er. Seine Banderfahrung war aber nur von kurzer Dauer. Diese Geschichte setzte sich erst im Alter von 56 Jahren fort, als seine Berufzeit endete. "Mit dem Ruhestand kam die erste Feierabendband", erzählt Tietzel. Zunächst machte er mit der Band „ProViele“ Musik. Nachdem sich die Gruppe 2012 auflöste, stand er gut fünf Jahre mit Tom Weegmann als Duo „2tone“ auf der Bühne. "Über die Musikmacherei lernt man Menschen kennen", erklärt Tietzel. Einer davon war Detlef Blanke.
Den Delmenhorster Bassisten lernte er 2015 kennen. "Ich habe Detlef Blanke gefragt, ob er Lust hat, aus meinen Songs, die ich zu Anfang meines Ruhestandes geschrieben habe, etwas zu machen", erinnert sich Tietzel. Und der hatte Lust. Gemeinsam wählten sie zehn Lieder aus und nahmen diese in Blankes Tonstudio in Delmenhorst auf. Rund zwei Jahre hat dies gedauert. Für Tietzel war diese Zeit "eine sinnliche Freude", wie er verrät. Zu sehen, wie etwas wächst und gedeiht, dass man sich ausgedacht hat, sei eine tolle Erfahrung. Doch als alles fertig war, stellte sich die nächste Frage: Wie soll die Hülle für den Tonträger aussehen? Eine "lieblose Plastikhülle", wie man sie überall bekommt, kam für Tietzel nicht infrage. Etwas Besonderes sollte her. Der Grafiker Lars Gorath gestaltete ihm ein Cover, das mit einer Unterwasserwelt in blau-grün Tönen an die Karibik erinnern soll. Wer die Hülle öffnet, taucht in das dunklere Blau einer tieferen See ein. Dort findet sich dann die silberne Scheibe raffiniert in Origami-Kunst verpackt.
Nun fehlte dem Hatter Musiker eigentlich nur noch eines: ein Label. Bei der Suche nach diesem kam ihm seine alte Liebe zur Fliegerei zu Hilfe. Auf dem Flugplatz in Hatten lernte er vor einem Jahr den Hobbypiloten Harald Rossol kennen, der zwar eigentlich in der IT-Branche arbeitet, dem aber auch das Bremer Label "Harbour Records" gehört. Dieses gründete Rossol 2006, als er mit seinem Unternehmen in ein neues Büro im Europahafen zog und zum Einzug eine CD mit Fahrstuhlmusik produzierte. "Seither habe ich in dieser Richtung zwar nichts weiter gemacht, aber ich weiß, wie es geht. Und ich hatte Lust, wieder mehr in Musik zu machen", sagt Rossol. Er wird sich nun vor allem um den Vertrieb der CD "Gräten" kümmern. Den Startschuss dafür bildet eine Release-Party am Freitag, 6. April, die ab 18 Uhr auf dem Flugplatz in Hatten stattfindet. Der Ort erscheint passend gewählt. Schließlich war die Fliegerei eine Inspiration für viele der Lieder auf Tietzels Tonträger.