Delmenhorst. In der Stille dieser Tage hört man es immer mal wieder: Aus geöffneten Fenstern, aus dem Stockwerk oben oder aus einem Garten schallt mal hier, mal dort ein lautes und wütendes „Jetzt reicht es aber!“ oder „Schluss jetzt!“ oder „Ab in Dein Zimmer!“. Die Corona-Krise verlangt den Familien viel ab. Eltern lernen womöglich Seiten an sich selbst kennen, die ihnen gar nicht gefallen. Der Geduldsfaden ist kurz, man hat weniger Verständnis, man wird laut, womöglich zu laut, man ist ungerecht, vielleicht rutscht sogar mal die Hand aus.
„Natürlich passiert das. Es sollte nicht passieren. Jeder weiß das, und den meisten tut es hinterher leid. Aber man darf auch nicht zu streng mit sich sein. Eltern und Kinder stehen zurzeit unter einem sehr hohen Druck“, sagt Andreas Höhn, Leiter der Psychologischen Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Delmenhorst und Wildeshausen. Selbst in den sonst harmonischsten Familien könne der Stress-Pegel derzeit sehr hoch liegen und Konflikte heraufbeschwören. „Das ist ja auch ganz verständlich. Die Kinder sind zu Hause und können nirgendwo hin, dürfen keine Freunde treffen. Die Eltern müssen arbeiten, womöglich im Home Office. Die Familien hocken permanent aufeinander. Das zerrt an den Nerven. Hinzu kommen womöglich existenzielle Sorgen oder Ängste, dass sich Familienmitglieder mit dem Coronavirus anstecken könnten“, sagt Höhn.
Deshalb haben sich die Psychologischen Beratungsstellen der aktuellen Situation angepasst. Wegen der Kontaktsperre werden die laufenden Beratungen, die sonst im persönlichen Gespräch stattgefunden hätten, weiterhin angeboten, allerdings zurzeit ausschließlich telefonisch. Des Weiteren können sich auch Familien melden, die zwar keine schwerwiegenden Familienkonflikte zu lösen haben, aber ein auf die Corona-Krise bezogenes Problem meistern müssen. Sie können sich entweder direkt oder an einem vereinbarten Telefon-Termin Tipps holen, wie sie die Krise konfliktfrei oder zumindest konfliktarm überstehen können.
Andreas Höhn hofft, dass die Hemmschwelle, das Angebot wahrzunehmen, nicht allzu hoch ist. „Es ist wichtig, sich ein wenig Hilfe zu holen, bevor Konflikte eskalieren“, sagt er. „Häufig handelt es sich auch um Konflikte, die schon länger unterschwellig bestehen, aber erst jetzt durch die verschärfte Situation hervor kommen“, ergänzt er.
Spiegel des Innenlebens
Doch nicht nur Eltern stoßen derzeit an ihre Grenzen, sondern auch die Kinder, betont Höhn: „Unerwünschte Verhaltensweisen der Kinder sind nur ein Spiegel ihres Innenlebens – und ihrer Eltern. Wenn die Eltern gestresst und ängstlich sind, überträgt sich das auf die Kinder. Und die haben durch die Schließung der Schulen und Kitas im Koment kaum Flucht- und Rückzugsmöglichkeiten.“ Deshalb sei es nun umso wichtiger, seinen Kindern Verständnis entgegenzubringen – aber auch, gnädig mit sich selbst zu sein. Ansprüche dürfen heruntergeschraubt werden, Fünfe auch mal gerade sein. „Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation. Da darf man auch mal lockerer sein und Dinge erlauben, bei denen man sonst strenger wäre“, sagt Höhn.
Zudem solle man die Krise nicht nur negativ, sondern auch als Chance sehen: „Jetzt hat man die Möglichkeit, eine ganz andere, engere Beziehung zu seinem Kind aufzubauen. Man kann die Chance nutzen, um intensiv Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Möglichkeiten und Anregungen gibt es genug. Und Eltern werden merken: Wer bewusst mit seinen Kindern Zeit verbringt, kann später auch in Ruhe im Home Office arbeiten. Die Kinder danken es ihren Eltern mit Kooperation. Vor allem, wenn es ihnen klar vermittelt wird.“
Überhaupt sei Kommunikation in der Krise das A und O. Es sei wichtig, mit seinen Kindern über das Coronavirus zu sprechen – auch schon mit den Jüngsten. „Kinder kennen Krankheiten wie Erkältungen oder Magen-Darm ja schon. Und sie wissen auch, dass man sich damit anstecken kann oder auch mal zu Hause bleiben muss. So kann man ihnen auch Corona erklären“, sagt Höhn.
Selbstverständlich könnten dabei auch Ängste entstehen. Das sei völlig in Ordnung: „Ängste und Sorgen der Kinder muss man ernst nehmen. Man sollte ihnen auf keinen Fall vorgaukeln, dass alles in Ordnung ist und alle Familienmitglieder gesund bleiben. Das weiß man nicht, das wäre schlichtweg gelogen“, so Höhn. Vielmehr solle man seinen Kindern altersgerecht erklären, was passieren kann und dass es normal ist, da Angst zu bekommen. Eltern dürfen auch zugeben, dass sie wegen der Krise selbst ängstlich, sorgenvoll oder gestresst sind. „Nur so lernen Kinder, ihre Gefühle zu benennen. Und sie merken, dass sie okay sind“, sagt Höhn.
Genauso verhalte es sich mit den vielen Verboten und Regeln, die zurzeit einzuhalten sind. „Im Grunde lieben Kinder Regeln ja, weil sie ihnen Halt und Struktur geben. Man merkt das immer dann, wenn sie ihre eigenen Eltern an Regeln erinnern, wenn diese dagegen verstoßen“, sagt Höhn. Wenn es den Kindern aber doch mal zu viel wird, dürften auch Eltern ruhig zugeben, dass sie genervt davon sind und die Regeln manchmal doof finden.
Aber was tun, wenn dann doch einmal alles zu viel wird und so viel Geduld und Verständnis nicht mehr vorhanden sind? Was tun, wenn der Geduldsfaden doch reißt? „Dann sollte man hinterher mit seinem Kind darüber sprechen und sich entschuldigen“, sagt Höhn. „Wenn es noch nicht zu spät ist, man aber schon die Wut in sich aufsteigen spürt, kann man mal kurz ins Nebenzimmer oder an die frische Luft gehen. Das hilft oft schon“, fügt er hinzu.
Alle Hilfesuchenden können die Beratungsstellen während der Corona-Krise montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr und montags bis donnerstags von 14 bis 15 Uhr erreichen. In Delmenhorst ist dies unter der Telefonnummer 0 42 21/ 1 41 41 und in Wildeshausen unter der Rufnummer 0 44 31/ 9 20 47 möglich.
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