
Haben kleine Menschen weniger Grundrechte als große? „Natürlich nicht!“, möchte man reflexartig rufen. Schließlich heißt es in Artikel 2 unserer Verfassung eindeutig: „Jeder (!) hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, (. . .) auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Jedoch: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Wenn dieses Gesetz aber schon das Grundgesetz selbst ist, kann das für kleine Menschen – sprich: Kinder – fatale Folgen haben. Deshalb will Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) nun das Kindeswohl in der Verfassung verankern – noch oberhalb des „besonderen Schutzes“, unter den sie Ehe und Familie stellt.
Es wird höchste Zeit, denn die Liste jener Kinder, die für die überkommene Privilegierung des Elternrechts furchtbar bezahlen mussten und müssen, wird jeden Tag länger. Schätzungsweise 200 000 Kinder werden jährlich in Deutschland misshandelt, fast jeden zweiten Tag stirbt eines an den Folgen – auch acht Jahre nach dem grauenvollen Tod des kleinen Bremers Kevin.
Den hatte sein drogensüchtiger Ziehvater zu Tode geprügelt und die Leiche des Zweijährigen dann in den Kühlschrank gestopft. Das Bremer Jugendamt wusste um die prekäre Lage des Kindes, entzog den Kleinen aber nicht dauerhaft seiner ebenfalls drogenabhängigen Mutter und deren gewalttätigen Lebensgefährten.
Doch selbst wenn die Behörde dies getan hätte, wenn Kevin dadurch überlebt und in einer Pflegefamilie jetzt seinen zehnten Geburtstag hätte feiern können – zumindest seine leibliche Mutter hätte immer noch gute Chancen, ihn per Klage wieder aus dieser Geborgenheit herauszureißen. Im Zweifelsfall stellen die Familiengerichte das definitive Sorgerecht der Eltern über das mögliche Kindeswohl. Eine begonnene Drogentherapie der Mutter, verbunden mit ein paar Auflagen, kann da schon den Ausschlag geben. Es ist also ein sehr dickes, hartes Brett, das Schwesig bohren will. Vor allem, weil es um die Verstetigung des Kindeswohls geht und nicht bloß um akute Gefahrenabwehr.
Wenigstens hier hat sich seit Kevin einiges getan. Seit zwei Jahren sind die Jugendämter gesetzlich verpflichtet, sich einen unmittelbaren Eindruck von der Umgebung gefährdeter Kinder zu machen. Schreibtisch-Entscheidungen, die gutgläubig oder bequem nur nach den Auskünften der Eltern getroffen werden, darf es also nicht mehr geben. In ganz harten Fällen können Kinder auch sofort in Obhut genommen werden – ohne Gerichtsbeschluss, ohne Einverständnis der Eltern. Eines von beiden muss dann aber zeitnah eingeholt werden.
Schon bis hierher war es ein weiter Weg. Das lässt sich gut daran zeigen, wie die CDU um das Thema gerungen hat. Im November 2006, unter dem unmittelbaren Eindruck von Kevins Tod, gelang der kleinen Bremer Delegation auf dem Dresdner Bundesparteitag ein Coup: Gegen den erklärten Willen der damaligen Parteiführung – und Schwesigs Amtsvorgängerin Ursula von der Leyen – setzte sie durch, dass Eltern gesetzlich verpflichtet werden sollen, ihre Kinder zu den ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen zu schicken.
Ministerin von der Leyen witterte hier einen „Generalverdacht gegen die Eltern“. Bremens damaliger CDU-Innensenator Thomas Röwekamp hielt dagegen: „Es gibt nicht nur eine Erziehungsberechtigung, sondern auch eine Erziehungsverpflichtung – und der Staat muss darauf achten, dass die auch wahrgenommen wird.“
Ein Jahr später war von der Leyen immerhin so weit, dass sie den sofortigen Besuch vom Jugendamt forderte, wenn Eltern die Vorsorgeuntersuchung versäumten. Eine gesetzliche Pflicht hinzugehen gab es freilich immer noch nicht. Auch nicht 2008: Der glasklare Parteitagsbeschluss von 2006 war am Kabinettstisch degeneriert zu einem neuen Einladungs- und Rückmeldesystem auf freiwilliger Basis. 2010, auf dem CDU-Bundesparteitag in Karlsruhe, drängte der Bremer Landsverband immerhin darauf, dass die Zusammenarbeit von Kitas, Schulen, Kinderärzten, Jugend- und Sozialämtern „in verbindlichen Vereinbarungen mit konkreten Ansprechpartnern“ geregelt wird.
Das scheint nun in der Tat in Bremen besser zu klappen. „Wir bekommen mehr Informationen“, heißt es aus dem Jugendamt, weil man nun stärker mit anderen Institutionen vernetzt sei. Auch die Zahl der Vollzeitstellen im ambulanten Sozialdienst wurde seit 2006 beinahe verdoppelt. Bei 2016 Verdachtsfällen im Jahr 2012 wurden 512 Bremer Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Gut so, aber was dann?
Langfristigen, dauerhaften Schutz für gefährdete Kinder garantiert die Inobhutnahme nämlich keineswegs. Vor allem dann nicht, wenn es keine offensichtlichen Hinweise auf Misshandlung gibt, wie ein aktueller Fall im Landkreis Osterholz zeigt. Das Jugendamt hatte eine 13-Jährige auf Beschluss des Amtsgerichts in Obhut genommen, weil das Kind über Jahre hinweg wochenlang in der Schule fehlte, keinerlei Sozialkontakte hatte und die Eltern dauernd den Wohnsitz wechselten. Neben der Unterbringung in einem Heim wurde eine Kontaktsperre zu den Eltern verhängt.
Das Mädchen floh aus dem Heim zu den Eltern, alle drei setzten sich nach Polen ab – und gingen im Internet in die Offensive. „Entführung“ warfen sie dem Jugendamt vor; der Landkreis revanchierte sich mit einem ähnlich lautenden Strafantrag. Das Oberlandesgericht Celle gab im Mai den Eltern Recht, obwohl es ihre Erziehungsdefizite in der Urteilsbegründung erwähnte. Der Entzug des Sorgerechts sei jedoch unverhältnismäßig und damit rechtswidrig.
Faire Chancen für jedes Kind? Offenbar verhindert dies bislang ausgerechnet unser Grundgesetz. Es wäre schön, wenn die CDU, die bei der akuten Gefahrenabwehr für Kinder so mit sich gerungen hat, hier souverän über den parteipolitischen Graben springen würde.
Was das Kindeswohl betrifft, steht Justitia ausgerechnet das Grundgesetz im Weg. FOTO: DPA
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