
Hendrik Werner
über historische Schuld
Zwei aktuelle Trauerarbeiten, ein gemeinsames psychohistorisches Symptom: Am Mittwoch hat die ARD eine Dokumentation über die frühere Terroristin Susanne Albrecht gezeigt, die im Juli 1977 an der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto beteiligt war, der mit ihren Eltern befreundet war. Der Film empfindet den Radikalisierungsweg des vormaligen Mitglieds der Roten Armee Fraktion (RAF) ebenso nach wie dessen Familienbande. Albrecht lebt heute unter neuem Namen als Lehrerin in Bremen. Sie wollte nicht öffentlich über ihre Motive und ihre Verantwortung sprechen, geschweige denn über ihre Schuld – obwohl die bewegende TV-Rekonstruktion von ihrer jüngeren Schwester Julia stammt.
An der badischen Exzellenz-Universität Konstanz wiederum wird derzeit – einmal mehr – um die Deutungshoheit im Fall des hoch dekorierten Romanisten Hans Robert Jauß (1921-1997) gerungen: Das vormals hoch dekorierte Mitglied der Waffen-SS, das seine steile nationalsozialistische Karriere angesichts schlagender Beweise erst zwei Jahre vor seinem Tod einräumte, wusste einem neuen Historikergutachten zufolge nicht nur von schweren Kriegsverbrechen an kroatischen Partisanen, sondern trug daran eine mutmaßlich zentrale Mitverantwortung.
Die entscheidenden Parallelen dieser beiden unversehens virulenten Fälle bestehen zum einen in einer historischen Schuld, zum anderen im massiven Versuch, diese zu negieren – in Gestalt von Verleugnung, Verdrängung, beredtem Schweigen. Beide auf diese Weise fraglich und lückenhaft gebliebenen Lebensgeschichten handeln von auf den ersten Blick behüteten Kindern aus großbürgerlichen Familien. Beide Geschichten handeln vom Tändeln und Anbändeln mit Formen des politischen Extremismus, die sich als ideologische Irrwege entpuppten. Vor allem aber mündeten beide Unbelehrbarkeitsbiografien – die der Bremer Grundschullehrerin Susanne Albrecht wie auch jene des vormaligen Konstanzer Hochschullehrers Hans Robert Jauß – in moralisch bedenkliche bis verwerfliche Fluchten und Ausflüchte.
Die von beiden Irrläufern vorgenommenen Identitätswechsel – Jauß, Doyen der Rezeptionsästhetik, machte daraus sogar eine entpflichtende Literaturtheorie im Zeichen des Rollenspiels – sind als weltanschauliche Häutungen lesbar, an deren Ende Eskapismus steht. Das Verhehlen der Vergangenheit hat Albrecht und Jauß auf denkbar bequeme Weise gebotener Rechtfertigung enthoben – und damit einer Diskussion, in der es weniger um historische Schuld als vielmehr um das Verstehen von Handlungen gegangen wäre. Susanne Albrechts fortwährendes Schweigen ist so feige, wie es jenes von Hans Robert Jauß und weiterer prominenter Literaturwissenschaftler war – darunter der belgische Komparatist und Nazi-Kollaborateur Paul de Man (1919-1983) sowie der Aachener Germanist und Universitätsrektor Hans Schwerte (1909-1999), der als SS-Hauptsturmführer noch den Namen Hans E. Schneider trug.
Schweigen aber beantwortet naturgemäß keine Fragen, sondern wirft lediglich neue auf. Das erstrebenswerte Ideal namens Versöhnung wie auch eine idealistisch grundierte Disziplin namens Hermeneutik, die Lehre des Verstehens, bedürfen zwingend eines Dialogs. Wenn sich die Täter diesem verweigern, bleibt vergangenes Unrecht – mit Ernst Bloch gesprochen – unerledigt, uneingelöst, unabgegolten. Julia Albrechts filmische Familienaufstellung „Die Folgen der Tat“ rührt so sehr an, weil sie notgedrungen nur Mutmaßungen über Susannes Abkehr von ihren Verwandten und den Weg gen Untergrund enthält.
Immerhin spricht in der Dokumentation eine Weggefährtin und Altersgenossin von Susanne Albrecht, Jahrgang 1951, in aufschlussreicher Weise über ihre Radikalisierung: Silke Maier-Witt, Jahrgang 1950, Terroristin der sogenannten zweiten RAF-Generation. Sie bringt ihr extremistisches Engagement in Verbindung mit der lange verhohlenen SS-Zugehörigkeit ihres Vaters.
Auch gesprochen, wenn auch erst nach jahrzehntelangem Zaudern, hat Günter Grass, der 2006 in dem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“ eingeräumt hat, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Was seinem Bekenntnis folgte, war eine breite gesellschaftliche Debatte über Schuld und Sühne. Mit seinem viel Mut erfordernden Eingeständnis hatte Günter Grass – anders als Albrecht, Jauß e tutti quanti – das aus Scham, Feigheit und Leugnung gewobene Schweigen gebrochen.
Die Doku über die schweigende Ex-Terroristin Albrecht wie auch die andauernde Historikerdebatte über den verschwiegenen Ex-SS-Obersturmführer Jauß muten deprimierend an. Einerseits. Andererseits zeigen beide Fälle, dass die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft immerhin so gut funktionieren, dass 70 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und 17 Jahre nach der Selbstauflösung der RAF ein ermutigender Wille zur Aufarbeitung historischer blinder Flecken besteht. Dieser Wille indes ist die unverzichtbare Grundlage gelingender Trauerarbeit. Besser spät als nie.
hendrik.werner@weser-kurier.de
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