
Die Kritiksitzung ist damit aber noch lange nicht beendet. Die Jugendlichen zwingen den Mann noch stundenlang zu immer neuen Geständnissen. Solange, bis sie überzeugt sind, ihn als Klassenfeind überführt zu haben.
Das war 1970. „Bauer Gu hatte das Pech, von uns zufällig als Opfer auserkoren zu werden“, erzählt Wang heute. „Wir wussten, zu einer richtigen Kritiksitzung gehört Gewalt.“ Als damals 20-Jähriger gehörte Wang zu den fanatisierten Roten Garden. „Wir waren überzeugt, das richtige zu tun, doch in Wirklichkeit verhielten wir uns barbarisch.“ Heute bereut er sein Verhalten. 2004, 34 Jahre später, wagte er es, in das Dorf zurückzukehren und sich bei Bauer Gu zu entschuldigen, den er damals geschlagen hatte. „Ihr wart Kinder. Und es war eine Bewegung“, hatte Gu ihm geantwortet.
Wang ist mit seiner reflektierten Haltung eine Ausnahme. Eine Mehrheit der Angehörigen jener Generation macht sich heute keine Gedanken über die Gräueltaten, die sie als Jugendliche in Maos Jugendgarde verübt hatten – während der Kulturrevolution, die der Diktator 1966 losgetreten hatte. Dabei gehört sie zu einer der verheerendsten Massenkampagnen des vergangenen Jahrhunderts. An diesem Montag jährt sich zum 50. Mal ihr Beginn.
Mao hatte die Kulturrevolution inszeniert, um seine gefährdete Machtposition zu festigen und sich seiner führungsinternen Widersacher zu entledigen. „Vertreter des Kapitals“ hätten sich in die Partei, die Regierung und die Armee eingeschlichen und eine Fraktion von Machthabern gebildet, die den kapitalistischen Weg gingen, ließ er in einer Mitteilung am 16. Mai 1966 erklären. Sie hätten Zeitungen, Rundfunksendungen, Bücher, Lehrmaterial, literarische Werke, Filme, Opern, Kunst, Musik und Tanz mit ihrem kapitalistischen Gedankengut verseucht. Deshalb müsse man sie in allen Bereichen des geistigen und politischen Lebens entlarven und vernichten. Unterzeichnet war das Schreiben von der „Gruppe für die Kulturrevolution des Zentralkomitees“.
„Alle Macht kommt aus den Läufen der Gewehre“: Solche und ähnliche Sprüche waren auch bei linken Studenten in Europa Ende der Sechziger- und zu Beginn der Siebziger-Jahre von tiefer Weisheit durchdrungen. Mao-Zitate garnierten Flugblätter linker Studentenorganisationen. Sie waren der Mao-Bibel entnommen, bekannt auch als das „Kleine Rote Buch“. Als die linken Studenten vom Ausbruch der Kulturrevolution in China erfuhren, brandete bei ihnen geradezu Begeisterung auf. Für sie waren die Gesellschaften des Ostblocks keine Alternative zum imperialistischen Kapitalismus im Westen. Der Realsozialismus der Sowjetunion und ihrer Blockstaaten waren ebenso zum Klassendenken mit korrupten Kadern an der Spitze zurückgekehrt. Chinas Führer Mao schien aus ihrer Sicht ein Heilmittel dagegen ersonnen zu haben: die permanente Revolution, in der alle Macht der Jugend gehört.
Für die linken Studenten war China Hoffnungsträger für einen besseren Sozialismus – und damit ein weiteres Land in der Ferne, das als Projektionsfläche diente. Die Wahrheit war eine andere. „Wir schlugen unsere Lehrer, denunzierten unsere Eltern, zerstörten Jahrtausend alte Kulturgüter und verloren jedes Gespür von Anstand und Moral“, erinnert sich Wang. In einem Dorf in der südwestchinesischen Provinz Guangxi kam es gar zu Kannibalismus. Rotgardisten trieben einen Lehrer in eine Ecke getrieben und entrissen ihm bei lebendigem Leib die Organe, die sie dann später grillten und aufaßen – als eine besonders makabre Art, Autoritäten zu demütigen. „Wir waren vom Wahnsinn getrieben“, sagt Wang heute.
Mao stürzte das Land die kommenden zehn Jahre in Chaos. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass 20 Millionen Menschen für Jahre zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt wurden. Rund 200 Millionen Menschen hätten an chronischer Unterernährung gelitten, weil in den wirren Jahren die Versorgung zusammenbrach. Die Zahl der Toten wird auf anderthalb Millionen Menschen geschätzt, die meisten umgebracht oder in den Selbstmord getrieben. Der rotgardistische Aufstand im Sommer 1966 forderte wahrscheinlich 10 000 Tote, die bewaffneten Kämpfe der Roten Garden untereinander noch einmal einige 10 000. Die meisten Toten gab es mit den späteren Säuberungsaktionen, das Chaos wieder in Griff zu kriegen.
In China weiß das keiner so genau. Denn eine Aufarbeitung dieses schrecklichen Jahrzehnts hat es nicht gegeben. Stattdessen wird Mao auch heute noch als der „große Steuermann“ und „Gründer der Volksrepublik“ verehrt. Offiziell gilt die von der Kommunistischen Führung ausgegebene Losung: Mao habe 70 Prozent gute Dinge geleistet, 30 Prozent schlechte. Eine Debatte, was von seinem Wirken den Menschen genau geschadet hat, wird nicht gestattet.
Und mehr noch: Der derzeit amtierende chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping nimmt sich den brutalen Herrscher wieder als Vorbild. Xi bedient sich nicht nur immer wieder Maos Rhetorik, sondern auch seiner Methoden. Dabei waren Xi und seine Familie selbst Opfer. Wie Millionen andere wurde auch Xi für Jahre aufs Land verbannt. Sein Vater Xi Zhongxun, ein rang-hohes Parteimitglied, wurde gleich zu Beginn der Kulturrevolution in Peking auf einen Platz gezerrt und vor einer Menschenmenge gedemütigt. Einer der Gründe: Bei einem Besuch in Ostberlin hatte er es gewagt, mit einem Fernglas nach Westberlin zu schauen.
Erinnerungen werden wach, wenn die Führung unter Xi Jinping nun Journalisten und Intellektuelle einsperren lässt und sie im Fernsehen zu öffentlichen Geständnissen zwingt. Überhaupt führt Xi das Land so autoritär wie lange kein chinesischer Machthaber mehr. Gegen mögliche Kritiker geht er rigoros vor. Und er pflegt einen Personenkult, wie es sämtliche chinesischen Staatsführer seit dem Tod von Mao keiner mehr gewagt hat.
Trotzdem sei die derzeitige politische Situation in China nicht mit der Kulturrevolution von damals zu vergleichen, sagt der Soziologe Zhou Xiaozheng. Xi setzte auf einen starken Staat, der ideologische Gedankenexperimente nicht zulässt. Ihm gehe es um Stabilität des Landes. Mao hingegen hatte damals bewusst auf das Chaos der Massen gesetzt und sie angestachelt, bestehende Strukturen zu zerschlagen. Auch das Ausmaß der Gewalt war damals eine völlig andere. Auch Xi gehe es um Machterhalt, sagt Zhou. Doch das heutige China handele sehr viel rationaler.
Und doch sorgt sich Zhou um den heutigen Zustand der chinesischen Gesellschaft – und führt das unmittelbar auf die Kulturrevolution zurück. Er beschreibt eine typische Szene in Peking: Eine ältere Frau steigt in die U-Bahn. Dabei schubst sie mit ihrem spitzen Ellbogen einen jungen Fahrgast beiseite. Eine Entschuldigung bleibt aus. Stattdessen schnattert sie lautstark mit ihrer Freundin, als wäre nichts geschehen.
Der Soziologe Zhou Xiaozheng hält dieses Verhalten für bezeichnend bei den heute 60- bis 70-Jährigen. Diese Generation sei von einer Zeit geprägt, in der sie sich gegenüber Autoritäten haushoch überlegen gefühlt haben. Es galten keine Regeln mehr, Erziehung fiel aus. Genau wie Machthaber Mao es wollte, brach das chinesische Wertesystem zusammen. „Wer seine Eltern denunziert, Lehrer verprügelt, Tempelanlagen zerstört und mit allem radikal bricht, wofür die jahrtausendalte Kulturnation stand, der wird auch Jahrzehnte später nicht allzu viel von Moral und gesellschaftlichem Miteinander verstehen“, sagt Zhou.
Der selbst 69-Jährige will seiner Generation gar keinen Vorwurf machen. Ideologisch völlig verblendet machten sie erst alles kaputt, mussten sich dann aber hinterher in dem völlig darnieder liegenden Land eigenständig durchschlagen. „Wer nicht vordrängelte hatte abends nicht genug Reis in der Schale.“ Dieses Verhalten übertrage sich auch auf die kommenden Generationen, glaubt Zhou. „Die Verrohung der Gesellschaft wirkt bis in die Gegenwart.“
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