
Dabei versuchte er sein Gesicht mit der Nasenspitze voran im maskenartigen Profil an ihr vorbeizuschieben, während er seine Arme unter hoch gezogenen Schultern eng an seinen Körper gepresst hielt. So zwängte er sich an ihr vorbei, und sie sah auf ihrer Augenhöhe seinen Anzug, den sie kannte – graues Jackett mit dunkelblauen Nadelstreifen, Er drehte sich nun leicht zur Seite, und da gelang es ihr, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie versuchte einen Gruß, ein erkennendes Lächeln, ein Kopfnicken, und ihm blieb nichts anderes übrig als ebenfalls ein Lächeln zu probieren. Sie befanden sich in einem Vortragssaal bei einer Dichterlesung, auf der ein bekannter Autor aus seinem neuesten Buch vorlas, ein wuchtiger Mann mit einem Kindergesicht, der berühmt war für seine feine ziselierte Sprache und für den scharfen Blick, den er für das Innenleben des modernen Mannes besaß.
Der Protagonist in seinem Buch – er heißt Herbert – irrt durch die Großstadt, auf der Suche nach einem Mittel gegen Filzläuse. Er traut sich nicht in kleinere Läden oder Apotheken zu gehen, da er nicht fragen möchte, welche Mittel es gegen diesen Juckreiz im Schambereich gibt. Er könnte zu stottern beginnen, wenn er das Wort „Filzläuse“ ausspricht. Vielleicht steht ihm gegenüber eine junge, freche Verkäuferin, die schamlos lacht oder viel schlimmer: eine mütterlich strenge grauhaarige Apothekerin mit starkem Busen unter schneeweißem Kittel, die ihn vorwurfsvoll über ihrem an einem Lederbändchen hängenden Brillengestell anblickt. Darum schämt sich Herbert und irrt lieber durch die Drogerieabteilungen der Supermärkte, fasst in die Auslagen, greift zwischen Shampoons und Duschgels, Präservative und Rasiercremes, studiert Aufschriften, bis er schließlich auf ein Mittel stößt, das „Jucetan“ heißt.
Jetzt übersprang der Dichter ein paar Kapitel und schilderte Herberts Erinnerungen an seine Kindheit, seine Mutter, die in Unterwäsche durch die Wohnung lief und in der Straßenbahn vor allen Leuten ihren kleinen Sohn putzte, indem sie in ein Taschentuch spuckte und sein Gesicht abrieb. Eine Mutter, die tagelang im Bett lag und ihr Kind nötigte, sie zu entkleiden, zu waschen und ihre wechselnden Launen in absurdester Weise zu ertragen.
Es schauderte sie, als sie das hörte. Sie erinnerte sich, dass sie ihren ehemaligen Liebhaber einmal gefragt hatte, wie denn sein Verhältnis zu seiner Mutter gewesen war. Er hatte darauf nicht geantwortet, sondern sich abrupt weggewandt und geschwiegen. Sie hatte nicht weiter zu fragen gewagt, hatte nur gesehen, wie sein Gesicht erstarrte und sein Mund sich verzog – ganz ähnlich, wie sie es jetzt empfand: dünne Hassfäden rechts und links um das Mundloch herum, die Vortäuschung eines Lächelns, hinter dem sich etwas unbestimmt Bedrohliches verbarg.
Jetzt überschlug der Dichter ein paar Kapitel aus seinem Buch und beschränkte sich auf die knappe Wiedergabe eines einzigen Kapitels. Dort trifft Herbert bei seinem ziellosen Gang durch einen Park zufällig auf ein junges Mädchen, das er – ohne bestimmte Absicht – zu verfolgen beginnt. Er ist einfach nur grenzenlos traurig und phantasiert sich eine Liebesnacht mit ihr herbei, wobei ihn das Jucken im Schambereich eher anzuregen anstatt abzuhalten scheint.
Plötzlich – in einem einzigen Satz – teilte der Dichter den Zuhörern mit, dass Herbert das Mädchen umbringen wird. Auf welche Weise und mit welchen Folgen – das nachzulesen überlasse er dem Publikum. Sprach’s, klappte das Buch zu und stieg vom Podest. Das Publikum merkte gar nicht, dass ihm das Lachen im Halse stecken bleiben sollte, dazu war es schon zu spät: die Lesung war zu Ende.
Sie erhob sich von ihrem Platz. Die Zuhörer klatschten Beifall. Sie suchte einen Blick aufzufangen von dem Mann im grauen Anzug, der aber war schon verschwunden, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie hörte, wie jemand in ihrer Nähe fragte: „Weißt du, ob es dieses Jucetan wirklich gibt?“
Um eine anregende, sachliche und für alle Parteien angenehme Diskussion auf www.weser-kurier.de sowie auf Facebook zu ermöglichen, haben wir folgende Richtlinien entwickelt, um deren Einhaltung wir Sie bitten möchten.
Welcher Verein wann in Bremen oder der Region spielt und wie die Begegnung ausgegangen ist, erfahren Sie in unserem Tabellenbereich. Auch die Ergebnisse der Spiele der höheren Ligen finden Sie dort.
nein, ist sie nicht und wird sie nicht, solange die Kritik unseren Community-Richtlinien entspricht.
Beste Grüße
Die ...