
. . Sich für Fußball zu begeistern, ist im Jahre 2014 nach Christus nämlich längst kein Hobby mehr. Es ist eine Lebenseinstellung, ein Bekenntnis, eine Gesinnung. So wie man Vegetarier sein kann oder Atomgegner, so entscheidet man sich für den Fußball. Die Entscheidung ist, sagt man, unumkehrbar. Wer sich von Anfang an gegen den Fußball entscheidet, schwimmt gegen den Strom und ist manchmal einsam – an Sonnabenden, wenn die „Sportschau“ läuft, während der Meisterschaften, wenn die Nation wie aus einem Mund „Schland“ zu rufen scheint und sich in Rot, Schwarz und Gold hüllt. Wen Fußball nicht packt, der steht ratlos daneben, ungerührt, ausgestoßen, ausgeschlossen, ein Fremdkörper. Sabine Rückert schreibt in der „Zeit“: „Finden Weltmeisterschaften statt, fühle ich mich wie der Unmusikalische im Konzert, der Mönch im Bordell, der Veganer in der Metzgerei: draußen.“
Ja, man ist so was von draußen und erwirbt sich obendrein einen Ruf als verspannter, herzloser Klotz. Denn Fußball ruft die ganz großen Gefühle hervor: Jubel, Trauer, Triumph, Enttäuschung, Neid und Zorn. Fremde liegen sich in den Armen, jubeln und weinen gemeinsam oder prügeln sich schlimmstenfalls. Wer als Bremer schon nicht willens ist, mitzuleiden und mitzufiebern, sollte zumindest wissen, wie Werder gespielt hat. „Das gehört hier zur Allgemeinbildung“, sagt Willi Lemke, UN-Sonderberater für Sport und Werder-Aufsichtsratschef. Wie kann das sein, dass die Namen der Werder-Spieler in Bremen vermutlich geläufiger sind als die der bremischen Senatoren? Theorien gibt es viele. Die einen halten Fußball für eine Ersatzreligion oder für eine Art modernen Stellvertreter-Krieg ohne Blutvergießen, andere für nichts als einen lukrativen Markt oder für eine Therapiesitzung: „Fußball ist neben dem Kreißsaal das letzte Refugium der Welt, an dem Männer noch ungestraft heulen dürfen“ (Bild-Autorin Ayla Mayer).
Auch Christian Brandt kam eines Tages in Erklärungsnot: „Ich saß mit zwei Freunden zusammen, und wir sahen uns ein Spiel der Fußball-WM 2010 an, Frankreich gegen Uruguay, ein nicht sonderlich spannendes 0:0-Spiel. Da fragten wir uns: Es gäbe an diesem Tag doch so viel Schöneres zu tun, als bei strahlendem Sonnenschein in einer viel zu heißen Wohnung vor dem Fernseher zu sitzen. Warum tun wir es nicht?“ Gemeinsam mit seinen Freunden begann Brandt nach Antworten zu suchen. Die Suche gipfelte in der Herausgeberschaft der Anthologie „Gesellschaftsspiel Fußball – eine sozialwissenschaftliche Annäherung“. Und was zwingt die Herausgeber weiterhin regelmäßig vor das Empfangsgerät? „Wir haben viele Antworten gefunden, bis ins Letzte erklären lässt sich das Phänomen nicht“, sagt der Hamburger Ethnologe. Nur in einem scheinen sich alle Experten einig: „Die Gemeinschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl spielen schon eine enorme Rolle.“
Denn Fußball macht gleich: Ob Hilfsarbeiter oder Professor, Pennäler oder Greis – in den Rängen liegt man sich in den Armen, in der Eckkneipe schimpft man gemeinsam auf den Schiri, Fußballexperte kann jeder sein, ganz ohne Ausbildung. Höchstens Popmusikkonzerte mögen ähnliche Brücken schlagen – über Generationen, Nationen und Schichten hinweg. „Konzerte sind nur nicht so spannend“, sagt Uwe Wilkesmann, Professor für Organisationsforschung. Er sammelt mit seiner Frau im Internet Aufsätze zum Thema „sozialwissenschaftliche Fußballforschung“. Sein Hobby, denn „eine Professur zum Thema Fußballforschung gibt es in Deutschland ja leider nicht“.
Was in einer der Fußballnationen schlechthin schon bemerkenswert ist. „Die drei beliebtesten deutschen Sportarten sind Fußball, Fußball und Fußball“, sagt Willi Lemke. Fachleute gehen davon aus, dass die Zahl derer, die sich für Fußball begeistern, weiter steigt – hierzulande, aber auch weltweit. Ein Grund dafür ist laut Lemke, dass „die Spielidee so einfach ist. Jeder, egal ob Eskimo, Indianer oder Europäer, weiß sofort, worum es geht. Außerdem kann man Fußball überall auf der Welt spielen. In Afrika spielen die Kinder barfuß und mit Bällen aus zusammengeknoteten Lumpen.“
In Deutschland hat der Fußball zwar Tradition, dennoch hat er in den vergangenen Jahren ein neues Publikum erobert, nicht zuletzt beflügelt durch die Fußball-WM in Deutschland, sagt Wilkesmann. „Die Zahl weiblicher Zuschauer scheint stetig zu steigen, das kann man bei den Spielen beobachten, und man sieht mittlerweile auch ganze Familien in die Stadien wandern.“ Eine ganz entscheidende Rolle spielten dabei die Massenmedien, sagt der Dortmunder Professor. „Mit dem Privatfernsehen wurde Fußball Ende der 80er-Jahre plötzlich ganz anders inszeniert und vermarktet.“ Aufwendiger, pompöser, mit viel Tamtam und Gesumms um das eigentliche Spiel. RTL begann mit „Anpfiff“ samstags bis zu drei Stunden über Fußball zu berichten, Werbepausen inklusive, versteht sich. Obendrein seien die Stadien nach und nach modernisiert worden,„der Eventcharakter ist immer mehr in den Vordergrund getreten“, so Wilkesmann. Ein Fußballspiel ist ein Ereignis. Eine spannende Partie, schöne Tore, der Triumph der eigenen Mannschaft sorgen für ein Hochgefühl, eine Art Rausch. Oder gar für Erlösung?
Die Arbeit „Abseits-Religion – Fußball als Religionsersatz“ haben Mike S. Schäfer und Mathias Schäfer zu Wilkesmanns Sammlung beigesteuert. Die Autoren verweisen auf Parallelen: Stadion und Kirche seien „geweihte Orte für geweihte Handlungen, nur zu bestimmten Zeiten zugänglich und mit einem besonderen Verhaltenskodex verbunden“. Der Einzug der Spieler, die Fangesänge und -kleidung, alles das habe Parallelen zur Liturgie. Selbst Rituale und Mythen hätten Religion und Fußball gemeinsam. Die Autoren verweisen jedoch auf einen fundamentalen Unterschied: „Fußball will und kann das Leben in seiner Gesamtheit nicht erklären.“
Zumal, wie gesagt, Gott den Fußball einst vergaß. Wie er stattdessen über die Welt und nach Deutschland kam, damit hat sich der Sportjournalist (und bekennender Werder-Fan) Folko Damm in seiner Magisterarbeit befasst. Danach beginnt die Geschichte des modernen Fußballs im 19. Jahrhundert in England. Deutschland ist zu der Zeit eine Turnernation mit Friedrich Ludwig Jahn an der Spitze. Das „englische Spiel“, heißt es bei Damm, wurde in Deutschland zunächst vor allem in bürgerlichen Mittelschichten gespielt, ausgehend von seinen Anfängen als Schülersport an Gymnasien. Und nicht jedermann war begeistert, als das Fußballfieber um sich griff: Ein Ehrenplatz in der deutschen Fußballgeschichte steht dem Stuttgarter Turnlehrer Karl Planck zu. Er veröffentlichte 1894 die Streitschrift „Fußlümmelei – Über Stauchballspiel und englische Krankheit“.
Wie man heute weiß, war sein Widerstand vollkommen zwecklos, sonst litte „Zeit“-Autorin Sabine Rückert nicht so: „Fußball ist eine Sucht, die vor allem Männer befällt. Eine Droge, die Väter den eigenen Söhnen verabreichen. Schon kleine Jungs lernen Spiele auswendig, leeren ihre Spardosen für Sammelalben, kleben Bilder ihrer Kicker-Ikonen ein und kommen nicht mehr davon los. Fußball ist seelische Schwerstarbeit für einen Fan. Sich davon zu distanzieren, ist wie Alkoholentzug. Der freie Wille existiert nicht im Stadion. Und auch nicht vor dem Fernseher.“
Gerade in Bremen darf der Entzug als unmöglich angesehen werden, die Abhängigkeit währt einfach schon lange: Der Deutsche Fußball-Bund (mit mehr als 6,8 Millionen Mitgliedern in knapp 26 000 Vereinen mit nahezu 170 000 Mannschaften) verweist auf den „Bremer Football-Club“ (von 1880) als einen der ersten, wenn nicht den ersten Fußballverein in Deutschland. Angeblich zeigten englische Schiffsbesatzungen im Hafen der Bremer Jugend, was eine Flanke ist.
Folko Damm schreibt: „Beim Finale um die Deutsche Meisterschaft 1911 in Dresden verfolgten 12 000 Menschen den 3:1-Sieg von Viktoria 89 Berlin gegen den VfB Leipzig.“ Gut 100 Jahre später hat Mesut Özil auf Facebook mehr als 25 Millionen Menschen zu einem „Gefällt mir“ motiviert, dem FC Barcelona werden allein mehr als 44 Millionen Fans zugeschrieben. Das WM-Finale 2014 verfolgten in Deutschland schätzungsweise 34,6 Millionen Menschen. Weltweit wird insgesamt – für alle Partien – mit deutlich mehr als 3,2 Milliarden Zuschauern gerechnet, so viele waren es 2010. Mehr als 3,2 von 7,2 Milliarden Erdbewohnern überhaupt.
Nicht berücksichtigt sind dabei aktive Fußballkontakte. In WM-Jahren werden weltweit angeblich rund 60 Millionen Fußbälle hergestellt. Timo Tabery, einer der Autoren in „Gesellschaftsspiel Fußball“, schreibt: „Fußball ist Jux auf der Wiese im Park mit Rucksack-Toren, obligatorisches Vorgeplänkel vor dem Vereinsheim-Suff, lärmendes Bälledonnern gegen ein Garagentor, Cola-Dosen-Gekicke im Pausenhof, gnadenlose Auslese betreibender, durchkommerzialisierter Leistungssport und vieles mehr.“ Fußball ist Sport und Ereignis, Drama und Kitsch, Heimat und Identität. Fußball vereint. Fußball enthemmt. Fußball packt. Was wäre die Welt ohne Fußball? „Sie wäre ein Stück ärmer“, sagt Willi Lemke. „Am meisten vermissen würde ich die geteilte Freude. Wo gibt es das sonst, dass man seine Freude so großzügig und ungeniert mit so vielen Menschen teilt?“
„Der Samstag hat wieder einen Sinn“, plakatiert die ARD, um auf ihre Sendung „Sportschau“ zu verweisen, die mit der Bundesliga die Sommerpause beendet hat. Das ist nicht zu dick aufgetragen: Fußball bewegt die Nation. Es gibt nichts Vergleichbares; nichts, das Menschen in solchen Massen bannt, ob im Stadion, vorm Fernseher, in Deutschland oder Brasilien. Warum? Eine Annäherung.
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