
Insgeheim nannte sie ihn Willy, nach dem Sänger Willy Schneider, den sie so gern im Fernsehen sah, und der ihrem Wilhelm so ähnlich war, im Aussehen und in der Statur. „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein”, das war Wilhelms Welt, und dafür liebte Luise ihn.
Wilhelm war der Mann ihrer Schwester, ihrer Zwillingsschwester Helene. Niemand hätte sie für Schwestern gehalten und für Zwillinge schon gar nicht. So unterschiedlich wie sie aussahen und im Wesen waren. Luise, die ein paar Minuten Jüngere, war immer größer und kräftiger und die Zupackende gewesen, während sich Helene auf ihre großen blauen Augen, ihr blondes Haar und ihren Charme verlassen konnte. Niemand hätte sie auseinanderbringen können, sie fühlten sich als eine Einheit – vor allem gegen Anne, ihre drei Jahre ältere Schwester. Gemeinsam machten beide das Abitur und arbeiteten danach bis zu ihrer Heirat irgendwo in irgendeinem Büro, während Anne als Ärztin und spätere Leiterin eines Gesundheitsamts richtig Karriere machte.
Wilhelm mit Helene und Luise, man gehörte zusammen, sah sich oft, telefonierte mehrmals täglich. Und Arthur? Luises Mann hatte nichts dagegen. Er akzeptierte die enge Beziehung der beiden Schwestern, solange er seine Ruhe hatte. Als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gymnasium hatte er Abwechslung genug. Zudem war er ein Büchermensch und las eigentlich immer. Sein ruhiges, leises Wesen hatte Luise immer sehr gemocht, und sein Wissen über alles faszinierte sie. Aber mit den Jahren war Arthur immer mürrischer geworden, und Gespräche zwischen den beiden gab es schon lange nicht mehr. Wenn sie miteinander sprachen, waren es zumeist Streitigkeiten über Geld. Das kleine Häuschen, mit dem alles gerechtfertigt wurde, ließ nichts mehr zu: keinen Ausflug, keinen Restaurantbesuch und Urlaub schon gar nicht. „Arthur hält Luise ganz schön kurz”, mokierte sich Helene, die in völlig anderen Verhältnissen lebte.
Manchmal wurde Luise von ihrer Schwester mitgenommen in eine kleine Konditorei in der Altstadt, wo sich Helene regelmäßig mit ihren Freundinnen traf. Aber Luise konnte diese Nachmittage nicht genießen, zu sehr plagte sie ihr schlechtes Gewissen, Geld auszugeben, Arthurs Geld. Nur wenn Evi mitkam und sie ihre Tochter in Kakao und Schlagsahne schwelgen sah, war ihr ein wenig Freude möglich. Zu besonderen Anlässen, meistens waren es ihre Geburtstage, luden Wilhelm und Helene zu einer kleinen Ausfahrt in die Umgebung ein. Dann saßen die beiden Männer vorn und die drei Frauen hinten im Wagen, und Wilhelm war in seinem Element. Er steuerte nicht nur das Auto, sondern vor allem das Gespräch, indem er selbst am meisten redete und am häufigsten und längsten lachte. Luise liebte diese Ausflüge, immer wurde sie von Wilhelm hofiert, der den absoluten Gentleman spielte, und sie fühlte sich als Dame und amüsierte sich wunderbar. Das waren die Situationen, an die Luise in ihrem Alltag dachte, und dann träumte sie sich in das Leben ihrer Schwester mit diesem Mann.
Wilhelm war kein Akademiker wie Arthur, sondern Kaufmann. Als Handlungsreisender für alkoholische Getränke in einer großen Firma war er viel unterwegs, während Helene allein in ihrem großen Haus zurückblieb. Sie wusste es nicht, und sie wollte es auch nicht wissen, aber doch ahnte sie: „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein”. Niemals hätte sie zugegeben, wie unglücklich sie sich fühlte, sie, die großartige, die schöne Frau, nicht nur an seiner Seite, die kinderlos, allein und einsam war. Sie begann zu trinken, viel zu trinken, und kam nach einem Streit mit Wilhelm zu Tode, als sie betrunken direkt vor ein fahrendes Auto lief. Es konnte nicht geklärt werden, ob es ein Unfall oder ein Selbstmord gewesen war. Wilhelm fühlte sich schuldig, nach der Trauerfeier fuhr er weg und blieb verschwunden.
Für Luise begann ein Leben ohne Helene, ein Leben ohne ihre Zwillingsschwester. Es war nur noch ein Leiden. Häufig sprach sie von Helene, und immer dachte sie an Wilhelm, von dem sie nie wieder etwas gehört hatte. Arthur und Luise blieben zusammen, was nicht einfach und nicht immer ganz sicher gewesen war. Aber beide waren irgendwie stolz darauf, es geschafft zu haben, auch für Evi, die ihr Elternhaus nicht verlassen hatte. Irgendwann starb Arthur, und so blieben Luise und Evi allein – aber es ging ihnen gut. Denn zum großen Erstaunen aller hatte Arthur zeit seines Lebens ein Vermögen zusammengehortet. Nach seiner Pensionierung war er jeden Tag mit dem Fahrrad zur Bank ge-
fahren, um sich nach dem genau-
en Kontostand zu erkundigen. Jetzt, als alte Frau, war Luise richtig vermögend. Im Safe lag so-
gar ein Goldbarren, 100 Gramm, wie eine Tafel Schokolade, nur kleiner und dicker. Ob Wilhelm wohl noch lebte?!
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