
Wenn Nelly doch nur ein wenig mehr Gefühl in den Fingern hätte, dachte sie flüchtig und schaute hinaus. Im tiefen Lichteinfall dieses Aprilnachmittages wirkte die Straße seltsam fremd und zugleich verheißungsvoll. „Cis, meine Liebe!”, sagte sie nach hinten.
Nun schon zum dritten Mal spielte Nelly an dieser Stelle ein C. Doch Elisas Gedanken schweiften ab, denn nun erblickte sie eine Gestalt, die unscharf im grellen Gegenlicht mitten auf der Fahrbahn lief. Unterdessen brach Nellys Spiel ab und das Nocturne begann noch einmal von vorne. Ein Mann im wehenden Mantel. Zu warm für diesen Frühlingstag, entschied Elisa und spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Mit Erwartung und zugleich Abwehr beobachtete sie, wie der Mann in gerade jenem Tempo auf sie zukam, in welchem Nelly sich der Cis-Stelle näherte.
Drei Takte noch, drei Schritte. Jetzt zwei. Der Mann im Mantel erreichte das Fenster und Nelly spielte ein C. Wie ein ungelöstes Rätsel hing es in der Luft.
Unwillkürlich trat Elisa einen Schritt zurück. Hatte er hereingeschaut?
Nelly spielte den Takt noch einmal, und endlich ertönte das langersehnte Cis. Elisa blinzelte. In der Brust pochte ein feiner spitzer Schmerz. Ja. Er hatte sie gesehen. Wie einen Nadelstich spürte sie seinen Blick hinten im Kopf. Nelly spielte weiter und Elisa beugte sich vor. Auf der Straße war niemand mehr zu sehen. Endlich – wie lange stand sie dort am Fenster? - wandte sie sich ab und erkannte, dass Nelly die Noten längst eingepackt hatte und wartete.
”Soll ich es bis zur nächsten Stunde noch einmal üben?”, fragte sie schüchtern. ”Tu das, meine Liebe. Und mit etwas mehr Gefühl”, sagte Elisa und bemerkte irritiert ein Beben in ihrer Stimme. Nelly klemmte die Tasche unter den Arm. Denk an etwas Wehmütiges, dachte Elisa, an etwas, das für immer vergangen ist. Denk an etwas Verlorenes, von dem du nicht wissen wirst, was es ist. Verwirrt spürte sie den Wunsch, das Kind zu umarmen. Ihm etwas zu sagen.
”Nächste Stunde“, murmelte sie.
Sie gingen hinaus in den dunklen Flur und Nelly öffnete die Haustür. Unversehens ergoss sich eine Flut Sonnenlicht über das Mädchen, ein Wasserfall aus purer Helligkeit. Geblendet hob Elisa die Hand und wich zurück. Nelly hingegen trat ohne Zögern hinaus in die gleißende Sonnenflut und verschwand im flirrenden Licht.
Elisa erschauerte. Nicht das Verlorene oder Vergangene war es, woran Nelly denken würde. Nein, es war das unausweichlich Zukünftige, das unlösbare Rätsel, die immerwährende Verheißung. Elisa trat hinaus in den Vorgarten, wo die Narzissen in gelber Pracht schwankten, und setzte sich auf die Bank. Die Strahlen der Sonne wärmten ihr Gesicht. Sie schloss die Augen. Ja. Er hatte ihr zugenickt. Eine Ruhe legte sich über sie, füllte sie aus. Ein Ton, ein Leuchten, dann nichts.
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