
Zwei Großthemen beherrschen derzeit die Europapolitik: Flüchtlinge und Brexit.
Helga Trüpel: Die Ukraine gehört auch noch dazu.
Was besorgt Sie da vor allem?
FDP-Chef Lindner oder die Linkspartei vergaloppieren sich, wenn sie de facto mit der Annexionspolitik der Krim durch Putin Frieden schließen.
Und auf der Gegenseite gibt es eine schwarz-grüne Koalition.
Bei uns sind Marieluise Beck und Rebecca Harms zwei ganz profilierte Ukraine-Politikerinnen, die die Aggressionspolitik von Wladimir Putin deutlich kritisieren. Ich bin ganz deren Meinung und betrachte mit Sorge manche Aufweichung bei der SPD. Von Altkanzler Schröder ganz zu schweigen – das ist völlig indiskutabel, was der jetzt macht bei Rosneft.
Ist das Verständnis für Putin schon Populismus?
Ja. Man umgarnt die AfD-Wähler damit und Teile der Linken-Klientel. Man schmeißt sich an diesen autoritären Typen Putin ran, dabei sollte man die eigenen Werte und das Rechtssystem der Europäischen Union aufrechterhalten. In diesen Fragen darf man nicht wackeln.
Das Rechtssystem der EU stößt ja zuweilen auch an seine Grenzen. Ist es eine gute Idee, tausende Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf Länder zu verteilen, die sie partout nicht aufnehmen wollen?
Wir haben es mit einer gewissen Feindseligkeit in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei zu tun, insbesondere gegenüber Muslimen. Das ist besorgniserregend. Andererseits kann die gemeinsame europäische Verantwortung nicht darin bestehen, diese Länder aus dem Verteilungsbeschluss auszuklammern, nur weil es hier eine gewisse Ausländerfeindlichkeit gibt.
Also?
Finde ich es richtig, dass sich alle daran halten, wenn man gemeinsam eine Entscheidung trifft – und das gilt auch für Mehrheitsentscheidungen, die nicht einstimmig sind. Es kann nicht sein, dass man in der EU nur Rechte und keine Pflichten hat. Das Modell kann nicht funktionieren.
Auch Deutschland hat erst ein knappes Drittel seines Anteils laut Umverteilungsbeschluss aufgenommen. Von allen EU-Staaten hat nur Malta bislang sein Soll erfüllt. Spricht das nicht generell gegen den Plan?
Nein. Es zeigt aber, dass es sehr schwierig ist und dass noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden muss – bei allen. Weder Deutschland noch Frankreich können sich freisprechen, sie haben ihre Verpflichtungen noch nicht erfüllt. Frankreich sicher auch wegen des Präsidentschaftswahlkampfs und des Drucks von rechts außen, von Marine Le Pen. Man hatte Angst zu sagen, welche Konsequenzen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge hat.
Was folgt daraus?
Wir haben es bei der Migration mit einem Problem massiver globaler Ungleichheit zu tun, und die EU muss sich überlegen, wie sie damit umgeht. Ich vertrete nicht eine Politik der offenen Grenzen. Ich meine, das kann man in einem Rechtsstaat nicht durchhalten und man wird auch keine Mehrheiten dafür gewinnen. Aber man muss dafür werben, dass man einen gewissen Anteil der Verantwortung für die globale Ungleichheit übernimmt.
Ungarns Präsident Viktor Orban pocht aber erst einmal darauf, dass sich die EU an den Baukosten für seinen Grenzzaun beteiligt: mit immerhin 440 Millionen Euro. Gibt es da überhaupt einen Rechtsanspruch?
Die EU-Kommission hat das ja deutlich zurückgewiesen. Der Zaun hat ja auch mit gemeinsamen Verabredungen überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil: Orban hält sich nicht an gemeinsame Umverteilungsbeschlüsse. Abgesehen davon hat seine Forderung ja eine uncharmante Ähnlichkeit mit Donald Trumps Idee, eine Sperrmauer zu Mexiko durch Mexiko finanzieren zu lassen. Die EVP, christdemokratische Fraktion im Europa-Parlament, muss angesichts dessen darüber nachdenken, ob Orbans Partei Fidesz noch Mitglied bei ihnen sein kann.
Ihr liberaler Kollege Alexander Graf Lambsdorff fordert, die Mittel für Ungarn in der nächsten Finanzplanung zu kürzen. Gibt es dafür eine Mehrheit im EP?
Es gibt Überlegungen, dass in der nächsten Finanzperiode ab 2020 die Auszahlung der Strukturfonds an die Einhaltung von Beschlüssen und Verträgen gekoppelt werden soll. Das ist natürlich interessant für Ungarn, Polen und Tschechien, denn dann kann die Auszahlung für ein Jahr ausgesetzt werden. Das ist nicht die ganz große Kanone, aber mehr als ein erhobener Zeigefinger. Letztlich stehen diese Staaten vor der Entscheidung: ganz raus oder ganz rein.
Nun haben die autoritären Regierungen in Ungarn und Polen ja schon Probleme mit der Unabhängigkeit ihrer eigenen höchsten Gerichte. Was haben solche Staaten eigentlich in der Wertegemeinschaft EU noch verloren?
Ich habe da eine Hoffnung. Wenn diese Regierungen im Rahmen der Brexit-Verhandlungen sehen, welche Nachteile der Austritt am Ende für das Vereinigte Königreich hat, lenken sie hoffentlich ein. Die nationalen Haushalte von Ungarn und Polen sind ja in hohem Maße abhängig von der Zahlungen der EU. Sowohl Orban als auch Jaroslaw Kaczynski wissen das verdammt genau. Es gibt ja auch andere Daumenschrauben: Beim Vertragsverletzungsverfahren etwa wird das Stimmrecht im Europäischen Rat entzogen. Und anders als vor zwei Jahren schaut die EU-Kommission nicht mehr tatenlos zu.
Ähnlich schleppend wie die Flüchtlingspolitik verlaufen die Brexit-Verhandlungen. Kann das EP darauf irgendwie einwirken?
In meiner Fraktion ist das auch bei den Briten sehr unterschiedlich. Die walisische Kollegin will so viel wie möglich retten, der schottische Kollege sagt: Man muss möglichst klarmachen, wie schmerzhaft die Nachteile eines Austritts sind. So denkt auch die Mehrheit in meiner Fraktion.
Die Stimmung in Großbritannien scheint sich ja zu drehen: nach dem Brexit-Rausch nun der Kater. Aber wie kommt man wieder raus aus der Nummer – und rein in die EU?
Die Briten müssen eben darüber nachdenken, ob sie die Konsequenzen tragen wollen. Oder ob sie nicht doch eher ihre Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der EU sehen.
Das liefe auf ein zweites Referendum hinaus.
Genau – im Konjunktiv. Und ich fände das schön.
Doch die Fliehkräfte zerren überall: Die Briten gehen raus, die Schotten wollen dafür raus aus dem UK, Irland wird wieder getrennt und die Katalanen streben weg von Spanien. Dänemark hat bereits Sonderkonditionen. Union geht anders, oder?
Trotzdem muss man die EU als ein Projekt der politischen Aufklärung verteidigen. Die große Auseinandersetzung findet statt zwischen dem Lager der liberalen Demokratie – mit sozialen und ökologischen Standards für den freien Handel – und denjenigen, die sagen: Abschottung, Grenzen dicht, Flüchtlinge raus, Schutzzölle rauf. Geht der Weg zurück in nationales Denken und weg von der supranationalen Demokratie? Was die betrifft, haben wir Empörungsjunkies von rechts bis links, von AfD bis Sahra Wagenknecht und Yanis Varoufakis. Und gegen die müssen wir uns verteidigen.
Die Fragen stellte Joerg Helge Wagner.
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