
Bremen. Ein Vortrag vor Kollegen, eine Fahrt im Fahrstuhl oder der Flug in den Urlaub – all diese Situationen lösen bei zahlreichen Menschen Angst aus. Ihr Puls steigt, die Hände fangen an zu zittern, der Schweiß bricht aus. Angststörungen zählen laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland.
Eine Angststörung kann nur bewältigt werden, in dem sich die Betroffenen den angstauslösenden Situationen stellen, am besten in einer Psychotherapie. Bei einer sozialen Angststörung engagiert der Psychotherapeut etwa Schauspieler, mit denen der Betroffene interagieren muss. Leidet ein Patient an Höhenangst, geht der Therapeut mit ihm auf eine Aussichtsplattform oder einen Turm. Doch derartige Therapien sind zeitaufwendig und kosten Geld. Virtuelle Realität (VR), also eine von Computern künstlich geschaffene Realität, soll das in Zukunft ändern.
In Deutschland wird die VR-Therapie bereits an verschiedenen Universitäten untersucht. Professor Andreas Mühlberger arbeitet am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität in Regensburg. Sein Team und er forschen bereits seit Jahrzehnten an VR. „Die Therapie mit virtueller Realität ist effektiv, insbesondere bei spezifischen Angststörungen“, sagt Mühlberger. Man könne mit VR angstauslösende Situationen besser und öfter wiederholen und relevante Szenen einarbeiten.
Leidet ein Patient etwa an Flugangst und fürchtet sich dabei insbesondere vor Turbulenzen, können diese virtuell erzeugt werden. Der Aufwand mit VR sei laut Mühlberger demnach weitaus geringer als bei einer realen Therapie. Die virtuell geschaffene Realität wirkt trotzdem auf die Patienten echt. „Auch wenn dem Verstand klar ist, dass es keine reale Situation ist, werden dennoch emotionale Netzwerke angestoßen“, erklärt Mühlberger. VR kann daher reale Angstsituationen ersetzen.Eben jenes Phänomen konnte auch Peter Schulz in seiner Abschlussarbeit der Informatik an der Universität Bremen feststellen. Er untersuchte, inwiefern VR bei Höhenangst helfen kann. Der 30-Jährige ist neben seiner wissenschaftlichen Arbeit auch Jugendleiter beim Deutschen Alpenverein (DAV) in Bremen.
Er erlebte immer wieder, dass die Angst vor dem Sturz in die Tiefe auch geübte Kletterer empfinden können. „Ich wollte testen, ob es möglich ist, diese Angst mit virtueller Realität wegzutrainieren, in einer Laborsituation“, sagt Schulz. „Wir haben in Bremen ja leider keine Alpen.“
Für seinen Versuch haben 30 Probanden drei verschiedene Klettersituationen durchlebt. Einmal sollten sie ganz ohne VR klettern, auf zehn Meter Höhe in einer Kletterhalle. Bei der zweiten Situation standen sie auf dem Boden mit einer VR-Brille auf dem Kopf und Controllern in den Händen, die die Klettergriffe simulierten. In der dritten Situation hatten die Probanden die VR-Brille auf, befanden sich in Bodennähe, aber hatten zusätzlich Klettergriffe zum Anfassen. Bei allen Versuchsbedingungen wurde die Angst der Probanden gemessen, unter anderem mithilfe der Messung der mittleren Herzratenintervalle und der Atemfrequenz.
Das Ergebnis: Die Probanden hatten auch in Bodennähe Stress, obwohl die zehn Meter Höhe nur virtuell erzeugt wurde. „Der Stress war nochmals stärker, als die Probanden mit der VR-Brille auch noch Klettergriffe anfassen konnten. Die Haptik machte die ganze Situation realistischer“, sagt Schulz. Er ist überzeugt, dass VR helfen kann, mit der Höhenangst umzugehen. „Das Erlebnis des Fallens und des Aufgefangenwerdens durch das Seil kann diese Simulation dennoch nicht ersetzen“, meint er.
Rainer Malaka, Professor der Informatik an der Universität Bremen, betreute unter anderem Schulz Forschungen. Er leitet zudem eine eigene Arbeitsgruppe: Digitale Medien. Diese beschäftigt sich intensiv mit VR. Die Gruppe hat bereits mit diversen Psychologen und Ärzten zusammengearbeitet. Dabei hat sie unter anderem erforscht, wie Menschen sich entspannen können, wenn es zu beängstigenden Situationen kommt, etwa bei immer enger werdenden Räumen. „Eine wichtige Frage bei der Arbeit mit VR ist: Wie realistisch muss das ganze sein?“, sagt Malaka.
„Wenn man eine VR-Brille aufsetzt und vor sich eine Planke sieht, die über einen Abgrund führt, dann fühlt sich das realistisch an. Dieses Gefühl kann man verstärken, indem man ein Brett auf den Boden legt.“ Das habe auch Schulz Abschlussarbeit mit der VR-Brille und den Klettergriffen deutlich gezeigt. „Das Anfassen, die haptische Komponente, macht einen gewaltigen Unterschied in der Simulation. Dann tritt der Stress erst richtig auf. Und Stress ist ein Indikator für Angst.“ VR sei laut Malaka nicht nur bei der Angstbewältigung geeignet, auch in der Medizin komme die Technik zum Einsatz, etwa im Anatomieunterricht.
Die Medizinstudenten müssten nicht mehr an Leichen üben, sondern könnten diese Praxis per VR erfahren. „Auch hier ist es wichtig, dass Organe angefasst werden. Das erreichen wir, indem wir Organe in 3-D ausdrucken“, sagt Malaka. Er glaubt, dass VR in wenigen Jahren in der Medizin und der Psychotherapie fest etabliert sein wird. Auch Professor Mühlberger ist davon überzeugt.
Bisher rentiert sich VR zwar noch nicht für die Therapeuten, da sie die Technik noch nicht abrechnen können. Das wird sich laut Mühlberger in den kommenden Jahren sicher ändern. Die Projekte in Bremen und Regensburg zeigen: die Forschung ist bereits weit in dem Gebiet der VR-Therapie. Die Praxis muss jetzt nur noch nachziehen. Und dann wird es vielleicht in Zukunft gar nicht mehr so ungewöhnlich sein, bei einem Psychotherapeuten mit einer VR-Brille in der Praxis zu sitzen und gegen seine Ängste anzugehen.
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