
Der Zimmermann der „Blankenstein“ steht an Deck des Schiffes, am Körper trägt er schwarzes Ölzeug, auf dem Kopf einen Südwestern, und in den Händen hält er einen fliegenden Fisch. Auf einem anderen Foto lehnt ein Mann mit Hut auf dem Kopf vor einem chinesischen Restaurant in San Francisco lässig an einer Laterne. Das Bild hat ein Crewmitglied der „MS Illstein“ aufgenommen. Bei diesen Fotos handelt es sich um Aufnahmen aus den 1950er- und 1960er-Jahren, gesammelt wurden diese und andere mit Überblick und gutem Händchen von Julia Dellith. Ihr Buch „The great Escape – Fotografien von der Seefahrt 1950 bis 1970“ ist im Dortmunder Kettler Verlag erschienen.
Andere Fotos zeigen das Segelschulschiff „Pamir“: Den Segelmacher, die Äquatortaufe oder Seeleute, die das Deck schrubben, versehen mit der ironischen Bemerkung, dass es sich dabei um „die Lieblingsbeschäftigung“ handele. Ein wenig Seefahrerromantik, die aber in den Hintergrund tritt, wenn man weiß, dass die Viermastbark 1957 in einem Hurrikan sank und 80 der 86 Besatzungsmitglieder starben. Seefahrt ist eben längst nicht nur Romantik und Fernweh, sondern bedeutet auch Strapazen, Gefahren, harte Arbeit und Schiffbruch – aber auch das große Abenteuer.
Wer sich für Seefahrt interessiert, wird dieses Buch mögen. Denn es versammelt viele Schnappschüsse, aber auch kunstvolle Fotos und ungewöhnliche Motive. Trotzdem, es waren keine Profis am Werk. Und so bestechen manche Aufnahmen gerade durch ihre Verschwommenheit und Unschärfe oder den unverstellten Blick auf Alltagssituationen der Seeleute. So zeigt ein Foto aus den 1950er-Jahren etwa, wie über eine Planke ein Schiff mit Bananenstauden beladen wird. Der Kommentar dazu: „Zwei Stauden wiegen 50 kg, es gibt kein Geländer.“ Ein anderes Foto zeigt einen Seemann, der nach dem Streichen der „Blankenstein“ ein Feierabendbier trinkt. Ebenfalls zu sehen: Ein Lotse klettert über die Jakobsleiter an Bord. Wieder ein anderes Bild zeigt ein Dromedar, das an Gurten in der Luft hängt. „In Berbera, Britsch-Somaliland, laden wir auf Reede 4000 Fettschwanz-Schafe und Ziegen, 165 Dromedare und 80 Zebu-Rinder als Schlachtvieh für Djeddah, Saudi-Arabien.“ Es sind für die Zeit und für die Seeleute, die der tristen Nachkriegszeit entflohen und zur Seefahrt gekommen sind, exotische Bilder, die Haie an Deck, Straßenszenen in Bombay oder Giraffen zeigen, die aus Ladeluken schauen.
Dass Julia Dellith sich für das Thema Seefahrt interessiert, kommt nicht von ungefähr. Der Vater der Bremerhavenerin war Seemann und fuhr von 1953 bis 1970 für den Norddeutschen Lloyd zur See. Als er eine Familie gründet, entschloss er sich schließlich, Lotse zu werden, um nicht immer monatelang von der Familie getrennt zu sein. Julia Delliths Vater hatte ein Album von seiner Zeit als Seemann. Ein Foto daraus, das ihn als jungen Mann zeigt, hängt noch heute über ihrem Schreibtisch. „Ich habe gedacht, vielleicht gibt es noch mehr solcher Fotos“, erzählt sie.
Nach einem Aufruf in der „Nordsee-Zeitung“ melden sich zahlreiche Seeleute bei ihr. Neben den Fotos bekommt sie Seefahrergeschichten gratis erzählt. „Ich habe viel zu sehen bekommen und viel Kaffee getrunken“, erzählt die Kunsthistorikerin, die mittlerweile in Berlin lebt. Für ihre Recherche hat sie die ehemaligen Seemänner dann in Hamburg, Bremerhaven und Bremen besucht. „Wie Arbeit hat sich die Recherche aber nicht angefühlt, denn ich habe eine große Leidenschaft für alte Fotos“, sagt sie.
Die Seefahrt bot jungen Männern nach den mageren Nachkriegsjahren ein wenig Freiheit, die Aussicht auf Abenteuer und die Möglichkeit, etwas von der Welt zu sehen. Ein wenig Seefahrerromantik und Klischees finden sich daher auch in einigen Fotos. So zeigt eine Aufnahme beispielsweise Seeleute, wie sie über die Reling lehnen und hübschen Mädchen nachschauen. An Bord kommen durften die Frauen allerdings nicht – denn das Schiff lag auf Reede, und vielleicht wollte der Kapitän keine Scherereien.
Auch andere Themen werden nicht ausgeklammert: Schon Mitte der 1950er-Jahre ging es nicht gerade reinlich in den Häfen zu, beschreibt ein Seemann anhand von Hongkong: „Im Heck wohnte die komplette Familie, hinten dran der Hühnerstall. Da alle Abwässer dieser Hausboote ins Wasser geleitet wurden, war der Geruch kaum auszuhalten.“
Auf einigen Seiten im Buch finden sich auch Aufnahmen von Kreuz- und Passagierfahrten, etwa ein Foto der „MS Bremen“ in Marschfahrt in schwerer Dünung Richtung New York. Auf einem anderen Foto liegen die vornehmlich männlichen Passagiere mit Schlips und Kragen auf Liegen des Panoramadecks der „TS Bremen“. Im Hintergrund spielt eine Blaskapelle, Kellner in weißen Servierjacken tragen Tabletts über das Deck. Die „TS Bremen“, vormals „Pasteur“, wurde übrigens 1957 von der Norddeutschen Lloyd gekauft und anschließend auf der Vulkan-Werft in Vegesack umfassend überholt.
„The great Escape“ ist gleichzeitig mit einem eher kurzen, aber sehr informativen Textteil auf Deutsch und Englisch erschienen. Die Zweisprachigkeit war eine Idee des Verlags. Sie gefiel auch der Autorin. „Englisch passt zur Seefahrt“, sagt sie.
Die Aufteilung des Buches mag man allerdings als umständlich empfinden. Denn die Bildunterschriften stehen nicht direkt neben den Fotos, sondern sind im Anhang untergebracht. Es ist ein Konzept, dass der Kettler Verlag bei allen Bildbänden so umsetzt. Der Blick soll ohne Ablenkung auf die Fotos fallen. Das kann man mögen, muss es aber nicht, denn zu den meisten Fotos hätte man gern mehr Informationen, ohne umständlich bis zum Buchende umblättern zu müssen. Das ist allerdings nur ein kleines Manko, ansonsten punktet das Buch mit der tollen Auswahl der privaten Seefahrerfotos.
„The great Escape – Fotografien von der Seefahrt 1950 – 1970“ ist im Kettler Verlag erschienen. Das Buch hat 255 Seiten und kostet
25 Euro.
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