
Wir kauften dieses kleine Küken beim Bauern, natürlich lebendig. Der Bauer gab ihm zu fressen und zog es groß. Meine Kinder und ich gaben ihm den Namen Lori. Wir fuhren oft zu dem Bauernhof. Lori schnatterte mit ihren vielen Brüdern und Schwestern auf den Hof herum, sie wurde größer und auch dicker. Zwei Tage vor Weihnachten wollten wir die Weihnachtsgans Lori von Bauer Piepenring abholen. Aber wo war sie?
Die vielen Gänse schnattern umher. Auf einmal lief eine sehr laut schnatternde Gans hinter meine Tochter her. „Mama, das ist Lori.“ Ich ließ Tanja in dem Glauben. Es waren einfach zu viele Gänse. Der Bauer holte sich Lori aus der Menge raus und setzte sie in den Korb, den wir mitgebracht hatten. Laut schnatternd fuhren wir mit dem Auto und Lori, der Weihnachtsgans, nach Hause. Sie sollte es noch bis Heiligabend gut haben in unserem Garten. Michael ließ Lori laufen, und die schnatterte und fraß Gras ohne Ende und lief hinter meinen Kindern hinterher – zur Freude der beiden. Lori ließ sie nicht aus den Augen und zwickte, wenn die beiden ihr zu nahe kamen, in die Beine. Das war nicht so lustig, und Tanja fing an zu heulen. „Lass sie in Ruhe, sie hat ja nur noch zwei Tage“, sagte mein Mann und leckte sich die Lippen.
Der besagte Tag kam. Am Morgen des Heiligabends schickte ich meinen Mann in den Garten, um Lori zu schlachten. Mit Messer und einem Beil zog er los. Ich hoffte, dass er früh genug mit der Gans wieder nach Hause kam, denn ich musste diese ja noch rupfen und danach braten. In Gedanken hatte ich ein mulmiges Gefühl. Das arme Tier.
Der Nachmittag kam, und mein Mann war noch nicht da. Später, als es schon dunkel war, klingelte es. Ich erschrak, mein Mann stand angesäuselt in der Tür mit Lori, der Weihnachtsgans. Sie hatte eine rote Schleife um den Hals. Mit hängendem Kopf sagt er: „Ich konnte es nicht übers Herz bringen, Lori zu schlachten, verzeihst Du mir?“ Klar doch – und jetzt schnell zu Aldi.
Zur Freude der Kinder hat Lori jetzt eine Bleibe in unserem Garten. Und wenn einer in ihre Nähe kommt, fängt sie furchtbar an zu schnattern und zu schimpfen. Seitdem wird in unseren Gartenhaus nicht mehr eingebrochen.
Brigitte Ullrich-Voggesberger