
Und ich reihe mich damit ein, in eine lange Tradition, in die Reihe der sogenannten Bürger mit Migrationshintergrund, wie es neudeutsch heißt. Wie oft höre ich im Gespräch mit Menschen, die Berger (französisch: Schäfer), Ober, Bellmann, Dallemann, vielleicht gar de la Garde heißen: „Ach ja, ich habe auch hugenottische Vorfahren, da will ich noch mal recherchieren.“ Und durch die vielen Neubürger hier in Bremen, die aus Syrien, Afghanistan oder Afrika kommen, ist das Thema gerade zu Weihnachten, dem Fest der Versöhnung, wieder einmal hochaktuell.
Die Leidensgeschichte der Hugenotten begann im 16. Jahrhundert. Der französische König regierte unter seiner Maxime „ein Reich – ein König – eine Religion“. Seine Bürger hatten katholisch zu sein. Protestanten wurden gnadenlos verfolgt, auch wenn sie gut ausgebildet und rechtzahlende Steuerbürger waren. So blieb den Hugenotten nur eins: die Flucht, besonders nach Holland (reformierte Kirche) und nach Deutschland/Preußen. Die Bohés sind wohl einige dieser Flüchtlinge gewesen und werden sich an die Gottesdienste erinnern, auch und gerade an den Weihnachtsgottesdienst an verborgenem Ort, um den Verfolgern zu entkommen.
Hugenotte zu sein, ist Teil meiner Familiengeschichte. Mütterliche Wurzeln liegen im Weserbergland, eine bis heute wesentliche Hochburg hugenottischen Glaubens, eine Region ähnlich der in der Provence oder den Cevennen, woher viele der verfolgten Hugenotten kommen. Meine väterlichen Wurzeln liegen in Mittelsbüren (Bremen-Nord), wo Lulf Bohé I. 1685 als der erste Bohé dokumentiert wurde.
Meine Geschichte I: Das versunkene Mittelsbüren mit der Moorlosen Kirche – dort, wo heute das Stahlwerk liegt – ist im Rahmen des Abrisses des Dorfes hervorragend dokumentiert durch ein Handbuch des seinerzeitigen Bremischen Denkmalpflegers Rudolf Stein aus dem Jahre 1957. Die Imhoffs und die Bohés als benachbarte Fähr- und Gastleute Mittelsbüren 36 und 37 haben dieses Büren ganz wesentlich geprägt. Von Anfang an waren die Bohés Walfänger. Deals dieser Art waren bei den Migranten und somit auch den Bohés so oder ähnlich üblich zu den Zeiten: gefährliche oder harte Arbeit gegen Sicherheit vor staatlicher Willkür und Verfolgung. Man brauchte den Wal notwendig für die Ernährung (Fleisch, Fett), Gesundheit (Lebertran) und für die nächtliche Beleuchtung in Form des Walfettes, denn die Elektrizität war noch nicht entdeckt. Viele Walfänger verloren ihr Leben im um Weihnachten stets eiskalten Nordatlantik – insbesondere, wenn ein verwundeter Wal auftauchte und das viel kleinere Schiff „huckepack“ zum Kentern brachte.
Meine Geschichte II: Manchmal verwachsen Realität und Märchen. Ich muss vorab erläutern, dass meine Ehefrau Russin ist. Nahe Frankfurt liegt die heutige Kleinstadt Ysenheim. Und dort beginnt eine (Weihnachts-)Geschichte, die zu schön ist, um wahr zu sein. Die beiden Freistädte Frankfurt und Ysenheim waren im 18. Jahrhundert Verteilerknoten der Hugenotten aus Frankreich und der Schweiz zur Weiterwanderung nach Norddeutschland, Berlin und Brandenburg sowie nach Bayern. Ysenheim war zudem – anders als Frankfurt – wesentlicher Verteilerort für Auswanderer nach Russland, die unter Katharina der Großen als Bauern und Verteidiger gegen die Türken die Wolgaregion erschließen und besiedeln sollten.
Es war seinerzeit gesetzliche Vorgabe der Regierenden, dass man nur als Verheirateter nach Russland auswandern konnte. Das aber schafften in der Regel die Zweitgeborenen aus finanziellen Gründen nicht. Mit diesem heute als widersinnig geltenden Verbot reagierte man auf eine mögliche „Reichsentvölkerung“. Als Freiherr machte Graf Gustav von Ysenheim allerdings nicht mit. In „seiner“ Kirche waren (Liebes-)Eheschließungen ohne weitere finanzielle Verpflichtungen möglich. Davon wurde rege Gebrauch gemacht, alleine von März bis Juni 1766 gaben sich in Ysenheim 375 Paare das Jawort, um sofort danach nach Russland auszuwandern. Könnte es nicht sein, dass hier in Ysenheim schon einmal – vor 250 Jahren – das Muster zwischen einem hugenottischen Franzosen mit (s)einer liebenden Russin gelegt wurde? Aber das ist eine andere Geschichte …
Thomas Meyer-Bohé