Am liebsten wäre es ihnen, wenn sie gar nicht gebraucht würden. Doch so rosarot ist die Realität nicht. Im Gegenteil. Manchmal ist sie sogar ziemlich dunkel. Da wird etwa aus dem Besuch eines Fußballspiels, der eigentlich Stunden der Freude bescheren soll, ein komplett unangenehmes Erlebnis. Nicht etwa, weil das Lieblingsteam verloren hat. Sondern wenn Grenzen missachtet werden. Psychische Grenzen, körperliche Grenzen. Grenzen, die festen gemeinschaftlichen Regularien unterliegen, die am Ende aber auch jeder für sich selbst steckt. Umso schlimmer, wenn diese von den Mitmenschen nicht respektiert, sondern überschritten werden. Und die Opfer sich anschließend entwürdigt, verletzt, beschämt, hilflos oder allein fühlen.
Klingt übertrieben? Ist es aber nicht. Vielmehr ist es Alltag. Auch im Weserstadion. Bei Werder Bremen wird daher seit einiger Zeit das Awareness-Konzept „Kennst Du MIKA?“ genutzt – und die Helfer haben reichlich zu tun. Denn die Schlüsselworte fallen häufiger, als es ihnen lieb ist. „Wir müssen anerkennen, dass es bei uns an den Spieltagen immer wieder zu grenzüberschreitenden Handlungen kommt“, erklärt Jermaine Greene, Werder Bremens Anti-Diskriminierungsbeauftragter, im Gespräch mit unserer Deichstube. „Daraus resultiert für uns als Verein eine Verantwortung, der wir uns stellen. Es ist bedauerlich, dass Projekte wie ,Kennst Du MIKA?‘ notwendig sind. Solange es sie aber braucht, werden wir uns ihrer annehmen.“
Im Dezember 2021 kam das Konzept erstmals während des Heimspiels gegen Erzgebirge Aue zum Einsatz, entscheidender Impulsgeber war der „AK Awareness“. Dieser Zusammenschluss aus aktiven Werder-Fans hatte sich an den Club gewandt und aufgezeigt, dass es in diesem Bereich noch reichlich Nachholbedarf gibt. Ein Ordnungsdienst, der in der Arena unterwegs war und sich im Notfall einschaltete, existierte zwar, doch es fehlte eine einheitliche Struktur des Handelns.
Bei den Grün-Weißen stieß die Initiative auf offene Ohren, in Zusammenarbeit mit dem „Notruf Bremen“ – einer Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt – entstand schließlich ein stadiontaugliches Awareness-Konzept. Seither flimmern die drei Worte „Kennst Du MIKA?“ im Vorfeld von Werders Bundesliga-Auftritten nicht nur über die Leinwände, auch andernorts gibt es entsprechende Hinweise, um auf das Hilfsangebot aufmerksam zu machen. Wer sich mit den drei Worten an Ordner oder jegliche Service-Mitarbeiter im Stadion wendet, sollte binnen kürzester Zeit Unterstützung erhalten.

„Mittlerweile ist das Konzept bei uns im Wohninvest Weserstadion recht gut etabliert“, berichtet Anne-Kathrin Laufmann, Werders Geschäftsführerin Sport und Nachhaltigkeit, auf Nachfrage. „Durch den Awareness-Stand, die Beschilderung auf den Toiletten sowie in den Logenbereichen und feste Hinweise im Stadionprogramm ist das Awareness-Konzept dauerhaft präsent und prägt sich immer mehr bei den Fans ein. Hier sind wir sicherlich noch nicht am Ziel, aber wir arbeiten daran, dass alle Personen im Stadion ,Kennst du MIKA?‘ kennen und wissen, was passiert, wenn sie sich mit diesem Code melden.“
Konkrete Zahlen, wie häufig während der Heimspiele geholfen werden muss, nennt der Verein nicht, bestätigt aber, dass es im Grunde keinen Spieltag mehr gibt, an dem es nicht zu Einsätzen kommt. „Unser Team greift aber nicht in grenzüberschreitende Situationen ein“, schildert Jermaine Greene und verweist darauf, dass das weiterhin Aufgabe des Ordnungsdienstes sei. „Awareness-Arbeit konzentriert sich auf die betroffene Person und darauf, wie dieser in oder nach einer erlebten Grenzüberschreitung geholfen werden kann.“ Anschließend entscheiden die Opfer selbst, welche zusätzlichen Schritte eingeleitet werden sollen. Ein Weiterleiten an die Polizei samt der Erstattung einer Anzeige ist also möglich, bislang aber eher die Ausnahme.
Wie bedeutend die Initiative ist, zeigt sich an den Reaktionen. „Wir bekommen überwältigend häufig die Rückmeldung, dass die Menschen sich durch ,Kennst Du MIKA?‘ im Wohninvest Weserstadion wohler und sicherer fühlen. Es sei beruhigend zu wissen, dass es eine Stelle gibt, an die sie sich wenden können, wenn sie sich unwohl, bedrängt oder belästigt fühlen“, sagt Werders Anti-Diskriminierungsbeauftragter. „Im letzten Monat haben wir zudem eine Arbeitsdefinition veröffentlicht, in der wir – angelehnt an eine Definition der Antidiskriminierungsstelle des Bundes – für uns definieren, welche Handlungen sexualisierte Grenzüberschreitungen darstellen.“
Darüber hinaus wird für weitere Themen sensibilisiert, das Heimspiel gegen Bayer 04 Leverkusen wurde unlängst dafür genutzt, um auf die Gefahr von K.o.-Tropfen in der Arena und deren direktem Umfeld hinzuweisen. „Es ist uns wichtig, klar zu benennen, welche Handlungen bei uns nicht erwünscht sind und auch einfach nicht geduldet werden“, betont Greene. „Damit wirken wir aktiv auf das Miteinander auf den Rängen ein und hoffen, hier eine nachhaltige Veränderung fördern zu können.“
Denn der Stadionbesuch soll ein Genuss sein. Nicht nur aus sportlichen Gründen.
„Generell haben wir eine Fanszene, die sich vermehrt mit Sexismus auseinandersetzt und auf Missstände – auch bei Werder Bremen – hinweist“, erzählt Greene. „Gleichzeitig zeigt dies aber auch, dass es dafür Bedarf gibt und wir hier noch nicht am Ziel sind. Solange in unserer Gesellschaft Sexismus und Grenzüberschreitungen zu finden sind, wird diese Thematik wohl auch bei uns im Wohninvest Weserstadion präsent sein.“ Der Fanbetreuer unterstreicht: „Alleine deshalb müssen wir uns weiter entschieden dagegenstellen. Wir müssen proaktiv unseren Beitrag dafür leisten, dass sexuelle Grenzüberschreitungen hoffentlich irgendwann der Vergangenheit angehören.“