Als im Sommer die Saisonprognose der Hamburger Firma Goalimpact trotz einer fulminanten Rückrunde wieder einmal den Abstiegskampf für Werder vorausgesagt hatte, trauten nur wenige Werder-Fans der Vorhersage. Man hatte schließlich die Europa League nur knapp verpasst. Und überhaupt: Hamburger, die Werder nicht viel zutrauen? Kennt man doch.
Nun ist Jörg Seidel, dem Kopf hinter dem Algorithmus, auf dem der Goalimpact basiert, Werder allerdings ein gutes Stück näher als der HSV. Und Meinungen spielen bei Goalimpact ohnehin keine Rolle: Das Unternehmen setzt es sich zum Ziel, Spielerqualität anhand objektiver Kriterien einzuschätzen. Das Prinzip, stark vereinfacht: Entwickelt sich die Tordifferenz eines Vereins positiv, wenn ein bestimmter Spieler auf dem Platz steht, steigt dessen Goalimpact. Dieser startet mit einem Basiswert von 100, Topspieler wie Lionel Messi erreichen teils mehr als 200 Punkte.
Ist der zur Verfügung stehende Datensatz groß genug, lässt sich so losgelöst von Tor- und Vorlagenstatistiken der Einfluss eines Spielers auf die Leistung seines Teams bestimmen. Oft gelingt das mit erstaunlicher Präzision: Schon die Ur-Version des Goalimpact ahnte 2004 den EM-Triumph der Griechen voraus, auch der 17-Jährige Mesut Özil wurde seinerzeit bereits als kommender Weltstar vorausgeahnt.
Seitdem hat Seidel seine Metrik einige Male verfeinert. Das hat deren Vorhersagekraft nicht geschadet: Seit 2014 zeigt sich der Goalimpact in seinen Prognosen treffsicherer als der Sportwetten-Markt.
Nach elf Spieltagen beziffert Goalimpact die Wahrscheinlichkeit eines direkten Bremer Abstiegs auf über 50 Prozent. Anhand von durchschnittlicher Mannschaftsstärke, bisher gesammelten Punkten und übrigem Spielplan vermutet der Algorithmus, dass Werder am Ende der Saison bei 32, vielleicht 33 Punkten landen dürfte. „Wir erwarten, dass man für Platz 15 etwa 36 Punkte benötigen wird in dieser Saison“, erklärt Seidel. Dazu müsste Werder in 23 Partien also 31 Zähler holen. Für die Relegation könnten schon 34 Punkte reichen.
Aber wie hat Werder sich überhaupt in diese Situation manövriert? Frank Baumann ist der Meinung, dass die Bremer Kaderplanung über den Sommer gut gelungen sei. „Wir haben uns aus meiner Sicht auch verstärkt“, hält Werders Sportchef fest. Dem widerspricht der Goalimpact: Mit Florian Grillitsch etwa hat ein hoch eingeschätzter Spieler den Verein verlassen. Auch Santiago Garcia habe der Kaderqualität gutgetan. „Per se schlechter geworden ist das Team aber nicht“, betont Seidel. Ludwig Augustinsson etwa sei ein guter Zugang, auch Jérôme Gondorf befindet der Goalimpact trotz schweren Starts für absolut bundesligatauglich.
Problematisch wird es, wenn Spieler aus der ersten Elf ausfallen. Denn in der Tiefe ist der Bremer Kader nicht gut besetzt. „Es fehlt eigentlich in allen Mannschaftsteilen ein bisschen Qualität“, diagnostiziert Seidel. Verletzen sich dann Spieler wie Max Kruse oder Niklas Moisander, die zu den absoluten Topspielern im Verein gehören, wird es personell schnell dünn. Lüttich-Leihgabe Ishak Belfodil zum Beispiel liegt mit seinem Goalimpact von 120 unter dem Mannschaftsdurchschnitt von 134.
Auch defensiv gibt es hinter Augustinsson und Moisander Probleme. Eine Beurteilung, die verwundert: Schließlich zeigte sich Werder defensiv zuletzt überaus stabil. „Das stimmt, aber es wurde erkauft durch eine sehr defensive Grundausrichtung“, schränkt Seidel ein. Mit einer stärkeren defensiven Achse könnte Werder es sich erlauben, mutiger nach vorne zu spielen – und starke Defensivspieler ließen sich günstiger finden als starke Stürmer, „wenn man weiß, wie“.
Grundsätzlich liegt die Bremer Selbsteinschätzung allerdings gar nicht so fern ab der Zahlen. „Wir sind nicht schlechter besetzt als sechs, sieben Mannschaften in der Bundesliga“, behauptet Baumann. Und tatsächlich sieht der Goalimpact Köln, Freiburg, Hamburg, Mainz, Stuttgart und Frankfurt etwa auf einem Level mit Werder, auch Hertha und Augsburg sind nicht weit weg. Nur: Auf Frankfurt etwa beträgt der Rückstand bereits jetzt 13 Punkte. Das ist auf eine gleichstarke Mannschaft normalerweise kaum aufzuholen.
Es gibt allerdings auch Grund zur Hoffnung für alle Werder-Fans: Der Goalimpact misst schließlich lediglich die Spielerqualität. Die ist zwar entscheidend, um auf lange Sicht die Stärke einer Mannschaft einzuschätzen, lässt aber Kriterien wie die Trainerarbeit oder die Unterstützung der Fans außer Acht. Gelingt es Baumann also, einen Trainer zu installieren, der die Mannschaft auf ein taktisch überdurchschnittliches Level hebt, lässt sich auch die unterdurchschnittliche Qualität des Kaders ein Stück weit kaschieren.
Offensiver Mut kann den Unterschied machen
Ohnehin: Die Bundesliga ist qualitativ so eng beieinander, dass eigentlich nur Spiele gegen Bayern oder Dortmund einen klaren Favoriten kennen. Für Werder bedeutet das, dass nur eine Handvoll Partien mit günstigem Verlauf zusammenkommen müssen, um sich wieder in Richtung Ligamittelfeld orientieren zu können. Vor allem ist es Zeit, im Zweifel lieber drei Punkte gewinnen zu wollen statt einen zu sichern: „In der aktuellen Tabellensituation ist ein Unentschieden für Werder nicht mehr gut genug“, analysiert Seidel. Möchte Werder die Abstiegsränge verlassen, geht das nicht ohne ein gewisses Maß an Risikobereitschaft.
Aufgrund des Punkterückstands ist allerdings davon auszugehen, dass das Thema Abstiegskampf Werder noch eine Weile begleiten wird. Falls es im Frühjahr 2018 in die Relegation geht, hätten die Bremer gegen die meisten möglichen Gegner gute Chancen – aber nicht gegen alle: „Holstein Kiel wäre gegen Werder Favorit“, verrät Seidel. Für den Goalimpact ist der Erfolg der „Störche“, die als Aufsteiger in der 2. Bundesliga derzeit hinter Fortuna Düsseldorf auf Platz zwei rangieren, keine Überraschung. Der durchschnittliche Mannschaftswert von 148,0 Goalimpact-Punkten ist für die Spielklasse herausragend. Immerhin: Noch haben beide Nordklubs genug Zeit, der Relegation aus dem Weg zu gehen.
Jetzt sichern: Wir schenken Ihnen 1 Monat WK+!