Auch wenn Florian Kohfeldt gerne erzählt, dass er in seinem persönlichen Umfeld vor allem Zuspruch und Aufmunterung erfährt, kam die massive Kritik in den vergangenen Monaten sehr wohl bei ihm an. Vor allem diese eine Frage, auf die er nicht immer zufriedenstellend antworten konnte. Sie lautete: Warum?
Werders Trainer bekam sie schon recht früh in der Saison zu hören. Zum Beispiel, als man in den ersten, schon damals schwachen Wochen der Saison den Eindruck gewinnen konnte, es würde bei Werder drei Eggestein-Brüder geben. Den Maximilian, den Johannes – und den, der dort im Trikot des Beinahe-Nationalspielers Maxi Eggestein über den Rasen trabt. Nach einer sehr guten U21-EM, bei der Werders Eigengewächs als Stammspieler glänzte, fiel er im Bundesliga-Alltag in ein beachtliches Formloch, das ihn – gemessen an den hohen Erwartungen – völlig zu verschlucken drohte. Dass er wegen der vielen verletzten Kollegen immer weiter hinten aushelfen musste, statt durch Tore glänzen zu können, machte den allgemeinen Eindruck nicht besser.
Klaassen zahlte auf Schalke zurück
Doch Kohfeldt hielt auch öffentlich fest zu Eggestein, den er seit der Werder-Jugend kennt. Alle Kritik, warum er den älteren der tatsächlich nur zwei Eggestein-Brüder bei Werder immer wieder aufstelle, bügelte der Trainer konsequent ab. Kohfeldt war trotz der angespannten Situation immer der festen Überzeugung, dass ihm sein Schützling diese öffentliche Rückendeckung zurückzahlen würde. Und tatsächlich: Bei den letzten drei Spielen gegen Freiburg (1:0), Gladbach (0:0) und Schalke (1:0), die Werder überlebenswichtige sieben Punkte bescherten, gehörte Maxi Eggestein zum Stammpersonal im Zentrum und zeigte ein Laufpensum und Zweikampfverhalten, das nicht nur Werder, sondern auch ihn selbst wieder von einer besseren Zukunft in der Bundesliga träumen lässt.
Ähnlich war das auch bei Davy Klaassen, für Kohfeldt ein absoluter Führungsspieler. Als die Ballverluste und Fehlpässe des Vizekapitäns gegen Ende der Hinrunde schon nicht mehr auf einen handelsüblichen Notizblock passten, stellte ihn der Trainer trotzdem immer wieder auf – in der festen Überzeugung, dass es solche leidenschaftlichen Kämpfertypen braucht, um Werder wieder auf Kurs zu bringen. Zuletzt erschrak Kohfeldt in der Corona-Pause, als er mit ein paar seiner früheren Studienkollegen sprach – und deren schlechte Meinung über Klaassen hörte. „Ich habe gemerkt, dass die Außenwahrnehmung von Davy eine ganz andere ist als die Innenwahrnehmung“, sagte der Werder-Trainer danach, „dabei ist Davy ist für mich ein absoluter Schlüsselspieler. Er liefert in einer von uns insgesamt schlechten Saison immer noch gute bis sehr gute Werte ab.“ Mit vier Toren und fünf Vorlagen in der Bundesliga gehört Klaassen zu Werders Top-Scorern, der Niederländer ist zudem ligaweit einer der laufstärksten Spieler. Beim Sieg auf Schalke zeigte Klaassen genau diese Klasse, die Kohfeldt an ihm schätzt – nicht nur beim entscheidenden Ballgewinn vor dem Siegtor. Auch Klaassen zahlt das uneingeschränkte Vertrauen des Trainers („Davy ist bei uns immer gesetzt!“) gerade zurück.
Kein Wechsel im Tor
Diese Geschichte lässt sich auch über Jiri Pavlenka erzählen. Im Gegensatz zu vielen seiner Trainerkollegen kennt sich Kohfeldt mit Torhütern besonders gut aus, er war selbst mal einer. Deshalb brauchte ihm auch niemand zu erklären, welche Fehler im Spielaufbau und beim Herauslaufen Pavlenka machte in der schwachen Hinrunde, aber auch zu Beginn der Rückrunde. Warum er ihn trotzdem immer wieder aufstellte, war eine heiß diskutierte Frage. Bei Werder, wo man Pavlenkas Spiel im Training zunehmend vereinfachte, und unter den Fans. Doch Kohfeldt blieb bei seiner Überzeugung, auch wenn es zwischendurch so schien, als würden ihm höhere Mächte (endlich) diese Entscheidung abnehmen. Beim Pokal-Aus in Frankfurt verletzte sich Pavlenka am Oberschenkel, beim letzten Spiel vor der Saisonunterbrechung bei Hertha BSC (2:2) stand deshalb Stefanos Kapino im Werder-Tor und wollte diesen Platz auch nicht mehr hergeben. Nach der Coronapause setzte Kohfeldt trotzdem wieder auf den inzwischen genesenen Pavlenka, der nun in Freiburg und auf Schalke die knappen 1:0-Siege mit starken Paraden mit ins Ziel brachte.
Alle sitzen in einem Boot
Weitere Werder-Spieler, die Kohfeldts grundsätzliches Vertrauen auch nach schlechten Spielen nicht verloren haben, sind Josh Sargent und Marco Friedl. Ob beide angesichts ihrer vielen Defizite von einem anderen Trainer auch so oft in der Bundesliga aufgestellt würden, darf bezweifelt werden. Doch in Freiburg, gegen Gladbach und auch zuletzt auf Schalke waren Sargent und Friedl wichtige Faktoren im Bremer Spiel und verdrängten deutlich prominentere und beliebtere Akteure wie Davie Selke und Ludwig Augustinsson auf die Bank.
Kohfeldt weiß natürlich, dass er mit all diesen Personalentscheidungen einen riskanten Kurs fuhr, teilweise auch noch fährt. Er ist darauf angewiesen, dass diese Spieler nun bis Saisonende mehr gute Spiele abliefern, als sie an schlechten Spielen zuvor angehäuft haben. Aber irgendwie sitzen sie jetzt auch alle in einem Boot: Wäre es nach öffentlichen Abstimmungen gegangen, würde sie wahrscheinlich alle bei Werder keine Rolle mehr spielen. Nun haben Trainer und Spieler es wieder selbst in der Hand, in Bremen erstklassig bleiben zu können. Es wäre Treue ohne Reue. Gelingt das, fragt keiner mehr nach dem Warum. Geht es jedoch schief, gibt es nach derart vielen schlechten Spielen keine andere Frage mehr.