Wer in den letzten Tagen das Geschehen rund um Werder Bremen verfolgte, konnte den Eindruck gewinnen, der Verein hätte sich mit Patrick Erras nicht nur einen großen Spieler, sondern vor allem ein großes Risiko ins Haus geholt. Zu verdanken hat der 1,96-Meter-Mann diese etwas kleinliche Sichtweise seinem Trainer, dabei hatte es Florian Kohfeldt offensichtlich gar nicht böse gemeint, als er am Wochenende nach den gewonnen Testspielen über Erras sprach. Der Trainer lobte und lobte, das dauerte mehrere Minuten. Und dann, ganz am Ende, schob er noch zwei verhängnisvolle Sätze nach: "Er hat aber halt trotzdem in jedem Spiel so ein oder zwei Bälle drin, wo du auch mal einen kassieren kannst. Den Mut müssen wir alle zusammen haben, das jetzt auf höchstem Niveau auszuprobieren.“
Damit war sie in der Welt, die Geschichte eines Patrick Erras, der Werders Erfolg quasi durch fußballerische Schlamperei gefährdet. Dabei ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein völlig anderes Bild, und zwar seit vielen Wochen schon und in nahezu allen Testspielen. Der langjährige Nürnberger hat sich überraschend schnell bei Werder zurechtgefunden und eine so starke Vorbereitung gespielt, wie man es bei seinem ablösefreien Wechsel aus der zweiten Liga nicht vermuten konnte. „Er liest das Spiel sehr gut, das kann man schon nach fünf Wochen sagen„, lobt Kohfeldt die sehr guten Vorstellungen seines neuen Mittelfeldspielers, “er weiß, wo die Räume sind. Und er weiß, wie er sich anzubieten hat.“
Indirekt an einigen Toren beteiligt
In den Testspielen wurde das bereits deutlich. Der 25-Jährige fordert permanent die Bälle, verlagert das Spiel und haut auch mal aus dem Fußgelenk einen präzisen langen Ball in die Sturmspitze raus, wie ihn zuletzt bei Werder Nuri Sahin spielen konnte, wenn er einen guten Tag hatte. Überhaupt fällt bei vielen der Werder-Tore in diesem Sommer auf: Geht man bei der Entstehung ein paar Stationen zurück und sucht den vorletzten oder drittletzten Pass vor der Torchance, dann landet man häufig bei Erras.
In Werders Herzkammer zentral vor der Abwehr gibt der Franke die Schlagzahl vor, er ist schon nach wenigen Wochen in Bremen der Schrittmacher. Dabei wirkt viel von dem, was er auf dem Platz macht, völlig unspektakulär. Aber durch einen Schritt in den Raum oder eine hohe Verlässlichkeit bei kurzen und halblangen Bällen hilft er seinen Mitspielern und verändert Werders Spiel im Vergleich zur Rückrunde: Zwar ähnelt seine Position der von Kevin Vogt, doch anders als die längst wieder heimgekehrte Hoffenheimer Leihgabe verteilt Erras gewonnene Bälle nicht mit der Präzision einer Schrotflinte, sondern mit einer soliden Gründlichkeit. Weil er auf dem Feld nicht so emotional agiert wie Vogt, wird er jedoch deutlich weniger auffallen, das lässt sich jetzt schon prognostizieren. Dennoch dürfte er für eine Mannschaft wie Werder, die gerne sauber von hinten herausspielt, ein Gewinn werden – wenn er es schafft, diese ein oder zwei Bälle nicht zu spielen, die Kohfeldt erwähnte. Wobei ihm diese Fehler oft nicht mal im Spiel nach vorne passieren, sondern mitunter bei Rückpässen zum eigenen Mitspieler, die nicht genug Wucht oder ein schlechtes Timing haben. Doch das sind bisher Ausnahmen.
Hohe Intelligenz im Passspiel
Der Trainer sprach nicht ohne Grund vor allem „von der hohen Intelligenz im Passspiel“, im Training sei Erras schon weit fortgeschritten, wenn es darum gehe, den Werder-Fußball zu verstehen. „Das konnte man ja auch in den Testspielen sehen“, meint Kohfeldt, „gerade bei eigenem Ballbesitz hat er mir auf der Doppel-Sechs im Mittelfeld neben Maxi Eggestein schon sehr gut gefallen.“
Und eine Waffe hat Erras beim Kampf um Tore und Siege noch gar nicht bei Werder einbringen können, nämlich seine Körpergröße bei Standardsituationen wie Eckbällen oder Freistoßhereingaben. Anders als in manchen Testspielen, als Mitspieler zu Trainingszwecken die entscheidenden Räume bei Standardsituationen besetzten, soll Erras in den Pflichtspielen zentral in beiden Strafräumen aktiv werden, defensiv wie offensiv. Für den 1. FC Nürnberg erzielte er so einige Tore, und sein Defensiv-Kopfball hat die neuen Kollegen in Bremen ohnehin schon überzeugt.
Was ist mit bulligen Gegnern?
Dass er seine Qualitäten auch in der Bundesliga abrufen kann, hat Erras in 19 Erstligaspielen für Nürnberg nachgewiesen. Doch dann musste er mit dem Club in die zweite Bundesliga. Die Umstellung auf das schnellere Spiel und den stärkeren Gegnerdruck muss ihm nun in den Ligaspielen gelingen, in den Tests gab es kein Duell mit einem Bundesligisten. Und auch eine andere Sache ließ sich in den Testspielen nicht klären. Nämlich, ob Erras - ähnlich wie sein Vorgänger Vogt - auch zentral in der Dreierkette mit robusten Stürmern zurechtkommt. Kohfeldt hatte gegen Hannover darauf gehofft, dass der kantige 96-Torjäger Hendrik Weydandt (94 Kilo bei 1,94 Metern) zentral spielen und Erras entsprechend herausfordern würde. Doch Weydandt suchte eher den Weg über den rechten Flügel und damit die Duelle mit dem deutlich kleineren Felix Agu, wo er viel leichteres Spiel hatte, sich zu behaupten. Das war für Agu ein wertvoller Test, aber halt nicht für Erras.
Bis jetzt sieht es so aus, als ob Erras die Sechserposition bei Werder nahezu konkurrenzlos bekleidet, alleine oder als eine Doppel-Sechs an der Seite von Eggestein. Zumal den Bremern die finanziellen Mittel fehlen, einen Topspieler für diese Position zu holen, auch wenn sich das viele Fans wünschen nach dem Weggang von Sahin, Vogt und Werders Urgestein Philipp Bargfrede. Der derzeit realistischere Weg ist es, Neuzugang Erras zu einem solchen Topspieler zu entwickeln. „Er bringt sehr viel mit“, lobt Kohfeldt, „für unser Positionsspiel, aber auch für unsere Spielentwicklung über die Sechserposition.“