Normalerweise hätte man es in diesem Schalker Tollhaus gar nicht gehört, weil in diesem Moment 60 000 königsblaue Fans ihre Mannschaft lauthals ausgepfiffen hätten. Weil aber wegen erhöhter Corona-Infektionen niemand ins Stadion durfte, war es beim Schlusspfiff gespenstig still in der Arena. Bis ein lauter Schrei die wenigen Ordner und Berichterstatter aufschreckte. Er kam von Florian Kohfeldt. Werders Trainer zeigte vor seiner Bank die berühmte Becker-Faust, er ist ja auch leidenschaftlicher Tennisspieler. Es war der Jubelschrei eines Siegers, aber auch ein deutliches Zeichen der Erleichterung: Mit diesem 3:1-Erfolg am zweiten Spieltag fiel eine Menge Druck von Kohfeldt ab.
Es war auch sein Sieg, das muss man so deutlich sagen, denn Werders Trainer baute seine Mannschaft nach der schwachen Leistung im großen Stil um – und das mit einer Konsequenz, die manche gerne schon viel früher von ihm gesehen hätten, und die ihm andere gar nicht zutrauten. Die hochverdiente 1:4-Niederlage am ersten Spieltag gegen eine eher durchschnittliche Berliner Hertha hatte das Fanlager in zwei Lager gespalten: Eine ziemlich große Gruppe reagierte erschüttert auf den einmal mehr leb- und leidenschaftslosen Werder-Auftritt, die übrigen Anhänger klammerten sich an die Hoffnung, dass man nach den ersten 90 Minuten einer Saison gewöhnlich noch kein endgültiges Urteil fällen sollte. Dass beide Lager durchaus recht hatten, zeigte Werders Spiel auf Schalke, „wo man zu jedem Zeitpunkt gesehen hat, für was wir stehen wollen“, freut sich Kohfeldt, der die Leistung und das Auftreten als einen „Gegensatz zum Spiel gegen Hertha“ einordnet.
Viele nötige Veränderungen
Der gegen Berlin so passive Abwehrchef Niklas Moisander musste im zweiten Spiel auf die Bank, was einem Kapitän selten passiert. Der gegen Hertha indiskutabel schwache Yuya Osako bekam auch keine zweite Chance mehr, ebenso flog Neuzugang Tahith Chong aus der Startelf, nachdem er in seinem ersten Bundesligaeinsatz die notwendige Defensivarbeit geradezu verweigert hatte. Dafür trugen nun der robuste Innenverteidiger Milos Veljkovic, der flinke Leo Bittencourt und der leidenschaftlich kämpfende Manuel Mbom das Werder-Trikot, in vorderster Front angeführt vom dreifachen Torschützen Niclas Füllkrug, der Davie Selke aus dem Team drängte.
Werders Sportchef Frank Baumann will zwar nicht unbedingt von mutigen Entscheidungen seines Trainers sprechen, er fand die Bremer Startaufstellung an diesem zweiten Spieltag aber „sehr gelungen“ und betont: „Der Sieg war wichtig, weil nach der Niederlage gegen Hertha die Stimmung um uns herum nicht ganz so gut war. Die Leistung gegen Hertha war auch nicht gut, aber es war eben nur das erste Spiel. Wichtig war, dass wir eine Reaktion zeigen und eine andere Leistung zeigen. Das hat man gegen Schalke von der ersten Sekunde an gesehen.“
Kohfeldt beschädigt keinen
Bemerkenswert ist dabei, wie moderat Kohfeldt den geradezu radikalen Kurswechsel begleitete. Er zog nicht wütend durchs Werder-Land, sondern versuchte auch bei diesem durchaus heiklen Manöver, niemanden zu beschädigen. So ließ er Moisander vor dem Anpfiff gegen Schalke in der Kabine die letzte Ansprache an die Mannschaft halten, auch wenn der Routinier danach nur auf der Bank Platz nahm. „Seine Worte haben die Mitspieler noch einmal zusätzlich gepusht“, lobt Kohfeldt. Die drei anderen Akteure, Osako, Selke und Chong, wurden in der zweiten Halbzeit – bei einer deutlichen Bremer Führung – sogar noch eingewechselt.
Dennoch: Diesmal hatte er eine Startelf gefunden, die seinen Worten und Vorgaben gegen Schalke auch eine entsprechende Leistung auf dem Platz folgen ließ. Es wäre problematisch für Kohfeldt geworden, wenn er wieder voller Überzeugung von „unserem Weg des aktiven, aggressiven und mutigen Fußballs“ gesprochen, das Team dann aber erneut nur eine passive, zaghafte und ängstliche Vorstellung geboten hätte. Im ersten Spiel gegen Hertha sei die fehlende Bremer Leistung „kein Einstellungsproblem“ gewesen, erklärt der Trainer nun, „sondern eine Frage des Muts“. Genau den bewiesen beim zweiten Spiel nicht nur die ausgewählten Akteure, sondern auch Kohfeldt – indem er ein „Weiter so“ tatsächlich nicht akzeptierte und die Aufstellung veränderte. Man habe sich ja bewusst für diesen Weg eines mutigen, aggressiven und aktiven Fußballs entschieden, betont der Trainer, „und diesen Weg gehen wir jetzt“.
Baumann lobt Konkurrenzkampf
Da hilft es ihm natürlich, dass er in dieser Saison auf schwache Leistungen einzelner Akteure entsprechend reagieren kann. Dem Kader fehlt es im Ligavergleich zwar an Qualität in der Spitze, in der Breite aber gibt es einen guten Konkurrenzkampf um die Plätze in der Startformation. Baumann sieht im Kader „sehr viele Spieler, die den Anspruch haben, zu spielen und zu Einsätzen zu kommen“, der Kampf um die Startplätze sei auf vielen Positionen offen. „Und davon“, weiß der Manager, „kann man als Mannschaft je nach Gegner oder Spielsituation immer profitieren.“
Nach dem verpatzten Ligaauftakt lag eine unruhige Woche hinter Werder, auch wenn Kohfeldt „zwischen einer Innen- und einer Außensicht unterscheiden möchte“. Eine „Hektik im Sinne von unnötigem Aktionismus“ habe er intern nicht verspürt. Baumann ist ja auch nicht als Hektiker bekannt. „Wir neigen bei der Bewertung von Spielen nicht zu Extremen“, sagt der Sportchef vor dem dritten Spieltag, „vor Schalke war noch alles schlecht, und jetzt ist alles super? So denken wir nicht. Es wird am Wochenende gegen Bielefeld ein anderes Spiel und definitiv nicht leichter. Wenn wir aber wieder die Leidenschaft und Intensität aus dem Schalke-Spiel auf den Platz bringen, kann es ein guter Saisonstart werden.“ Von alleine klappe das jedoch nicht. Aber das ist ja nun gelernt: Schon vor dem Spiel gegen Schalke war Mut gefragt.