
Schon an diesem Wochenende könnte es passieren. Sollte Werder beim Tabellenzweiten RB Leipzig verlieren, wäre das die 624. Bremer Niederlage in der Bundesliga. Damit würde man den Hamburger SV einholen, der in seiner ruhmlosen Abstiegssaison im Mai 2018 diese Marke zurückließ. Nur Eintracht Frankfurt verlor noch häufiger, nämlich 654 Spiele. Das ist in dieser Saison selbst von Werder nicht zu schaffen.
Es ist weder unangebracht, noch verboten, in diesen Tagen vom Bremer Osterdeich aus in Richtung Hamburg zu schauen. Man kann auch von Rivalen lernen. Und tatsächlich fällt der Name des HSV häufiger, wenn in Werders Führungsgremien über die Werder-Krise diskutiert wird. Als der damalige Dino in ernste Abstiegsnot geriet, machten die dortigen Bosse alles anders, als es – bis jetzt – ihre Kollegen in Bremen tun. Die Hamburger feuerten ihren Trainer Markus Gisdol, der den Verein im Vorjahr erst gerettet hatte, im Januar nach dem 19. Spieltag. Das ist ein schlechter Zeitpunkt, direkt nach der Wintervorbereitung. Grund war die sechste Niederlage in Folge.
Dass es noch viel schlechter ging, bewies Gisdols Nachfolger Bernd Hollerbach. Der gewann gar kein Spiel und wurde wenige Wochen später auch entlassen. Nun übernahm Christian Titz – und stieg ab. Was folgte, passte in diese Chronologie des Verfalls: Schon nach wenigen Spielen in der 2. Liga musste auch Titz seine Sachen packen. Jetzt übernahm mit dem jungen Hannes Wolf ein Gegenentwurf, scheiterte aber auch. Heute versucht Dieter Hecking mit seiner Erfahrung, die Lage zu beruhigen. Doch es brachte den HSV nicht voran, allein im Kalenderjahr 2018 unter großem Druck vier Trainer beschäftigt zu haben, von Gisdol bis Wolf. Jeder dieser Wechsel ging nicht auf.
Wenigstens diesen Fehler will Werder nicht auch noch machen. Wobei Geschäftsführung und Aufsichtsrat die Lage durchaus als dramatisch bewerten. Nach nur einem Sieg aus den letzten acht Bundesligaspielen ist der erneute Absturz auf den 17. Platz nicht mit Pech zu verwechseln. Das führt auch in den Gremien zu vielen Diskussionen, vor allem auch darüber, ob eine Entlassung von Trainer Florian Kohfeldt zu einer Verbesserung führen würde. Wenn man dieser Meinung wäre, hätte man das längst gemacht. Doch nach Lage der Dinge traut man keinem anderen Trainer zu, mehr aus diesem Kader herauszuholen. Das spricht nicht für die Qualität und Mentalität dieser Mannschaft. Die Angst der Werder-Bosse ist deshalb groß, durch einen Trainerwechsel so zu werden wie der HSV: kopflos, konfus, zweitklassig und ohne jede Identität auf dem wichtigen Trainerposten.
Zur Wahrheit beim Thema Kohfeldt gehört eben auch, und das wissen die Handelnden sehr genau: Der junge Trainer war bei keiner relevanten Entscheidung alleine in der Verantwortung. Seine persönlichen Fehler im Berufsalltag rechtfertigen nicht, ihn aus dem engen Werder-Zirkel zu verstoßen. Kohfeldt steht zudem für alles, was der Verein von einem Trainer erwartet: Identifikation, Leidenschaft, Persönlichkeit und der unbedingte Wille, an einem Standort wie Bremen etwas zu bewegen. Wenn nun ein Trainerwechsel verpufft, auch darüber diskutieren sie in der Vereinsführung, würde auch das alles verloren gehen.
Andererseits steht auch Kohfeldt den seelenlosen Auftritten des Teams bisher machtlos gegenüber. Doch bei einer Umfrage des Fachmagazins „kicker“ halten 57 Prozent der Leser ihn jedoch auch nach der Niederlage gegen Union noch für den richtigen Werder-Trainer. Schließlich trennt derzeit nur ein Tor den Bremer Traditionsverein vom Relegationsrang und damit von der möglichen Rettung, zu Mainz auf Platz 15 sind es nur vier Punkte Abstand – bei noch 13 Spielen. Werder kann das mit Kohfeldt packen. Oder scheitern. Es ist ein Abwägen von Wahrscheinlichkeiten. Es gibt keine Garantien dafür, was richtig oder falsch ist. Auch hier gilt: siehe Hamburg.
So sehen sie das bei Werder. Doch mit ihrem ausgeprägten Hang zur Rationalität treiben die Verantwortlichen viele im Umfeld zur Verzweiflung. Jedenfalls wächst in der berühmt-berüchtigten und weit verzweigten Werder-Familie der Unmut. Fußball ist ein sehr emotionales Geschäft, vor allem im Abstiegskampf. Diese Stimmung erreicht seit der Niederlage gegen Union auch die offiziellen Gremien. Es gibt dieser Tage rund um den Klub viele Gerüchte, Schuldzuweisungen und Aufgeregtheiten. Das funktioniert wie in jeder Großfamilie, wo es immer welche gibt, die man am liebsten mit der Nagelschere aus dem Stammbaum schneiden würde. Meistens beruht das auf Gegenseitigkeit. So ist das auch in der Werder-Familie.
Der Druck auf die Handelnden wächst, doch weil eine ernsthafte Opposition weit und breit nicht zu erkennen ist, liegt es am Aufsichtsrat um Marco Bode und bei der Geschäftsführung mit Frank Baumann, Klaus Filbry und Hubertus Hess-Grunewald, welche Entscheidungen getroffen werden. Die Optionen dabei, die man sich nur teilweise aussuchen kann: Mit Kohfeldt weitermachen und die Klasse halten. Mit Kohfeldt absteigen. Oder den Trainer bald wechseln. Über Kohfeldt kann nur die Geschäftsführung entscheiden. Baumanns Zukunft liegt in den Händen des Aufsichtsrats. Das Ganze ist auch ein Abwägen zwischen kurzfristigen Effekten und langfristigen Zielen, heißt es im Klub. Dass Baumann und Kohfeldt als sportlich Verantwortliche im Paket gehen müssten, ist bisher nicht Teil der Gedankenspiele. Am liebsten würde man es ja mit beiden packen.
Geschlossenheit und Zusammenhalt sind stattdessen nun das oberste Gebot bei Werder, das ist seit dem Ergebnis-Schock vom Wochenende deutlich zu spüren. Interessanterweise führte Jürgen Klinsmann am Dienstag genau das als Erklärung dafür an, warum er bei Hertha BSC den Trainerjob hinschmiss: „Gerade im Abstiegskampf sind Einheit, Zusammenhalt und Konzentration auf das Wesentliche die wichtigsten Elemente.“ In Berlin fehlte es. Bei Werder wird es, weiterhin, gelebt. Aus Angst oder der Sorge, das Falsche zu tun. Und gleichzeitig aus der Überzeugung, in der jetzigen Konstellation das noch Bestmögliche für Werder erreichen zu können. In Berlin ist mit dem Ex-Bremer Alexander Nouri vorläufig der dritte Trainer in dieser Saison im Amt. Der Verein steht für Wahnsinn, Panik und Chaos.
Für Werders deutlich defensivere Vereinsführung ist derweil auch ein Blick über das Saisonende hinaus wichtig. Für einen Zweitligisten beginnt die Saisonvorbereitung wesentlich früher, zudem müssten nach einem Abstieg in kurzer Zeit sehr viele Transferentscheidungen getroffen werden. Wenn Werder schon nicht als reichster Verein in die 2. Liga geht, wäre eine geschlossene sportliche Führung wenigstens kein Wettbewerbsnachteil. Der HSV schaffte den direkten Wiederaufstieg nämlich nicht. Für Werder aber wäre genau das wirtschaftlich noch viel schlimmer als der Abstieg.
Bremen ohne Werder - das ist unvorstellbar! Und das Profiteam, das in der Bundesliga um Punkte und Tore kämpft, ist das Herzstück des Vereins. Auf dieser Seite gibt es News, Fotos und Videos rund um die Werder-Profis.