
Der Mann hat offenbar Sinn für Symbolik. Zweimal lief der Neuseeländer Wynton Rufer in diesem Jahr auf Händen über einen Fußballplatz: Im Stuttgarter Gottlieb Daimler-Stadion durchquerte er auf solch artistische Weise den Mittelkreis ebenso wie rund sechs Monate später im Bremer Weserstadion. An beiden Tagen hatten die Profis des SV Werder Bremen tatsächlich die Fußball-Welt auf den Kopf gestellt: Im Schwabenland gewannen und feierten sie die deutsche Meisterschaft, zu Hause fertigten sie den RSC Anderlecht mit 5:3 ab.
Und beide Male waren die Bremer Kicker schon von fast allen abgeschrieben gewesen. Der Endspurt um den Titel und die triumphale Auferstehung in der Champions League, die der SV Werder ohnehin als erster deutscher Klub erreicht hat, waren die Meilensteine im „erfolgreichsten Jahr der Vereinsgeschichte„ (Präsident Franz Böhmert). Das Publikum und auch die Sportjournalisten registrierten es jeweils mit Anerkennung: Bei den diversen Wahlen zum Jahresende wurde Werder zweimal als drittbeliebteste „Mannschaft des Jahres“ ausgezeichnet.
1993 könnte aber auch als das Jahr gelten, in dem die Bremer das sorgfältig gepflegte Image des „Underdogs" zwangsläufig ablegen mußten. Denn die Erfolge in der norddeutschen Provinz sind längst nicht mehr nur Saison für Saison zu betrachten. In diesem Jahr setzten die Bremer nämlich das fort, was mit dem Pokalsieg und dem Gewinn des Europacups seinen Anfang genommen hatte: Der Verein von der Weser bastelte 1993 erfolgreicher denn je an einer grün-weißen Ära im deutschen Vereinsfußball.
Abzulösen gilt es den FC Bayern München, der über Jahre ebenso erfolgreich war wie der SV Werder derzeit. Doch die Souveränität des süddeutschen Riesen schmolz dahin wie bayerische Butter auf warmem Leberkäs. 1993 war auch nicht zuletzt das Jahr der Münchner Eskapaden: Viererkette gescheitert, Matthäus bloßgestellt, Ribbeck demontiert, Meisterschaft verloren, Europacup verspielt — irgendwie hielten sich die Münchner immer im meist unerfreulichen Gespräch. Beim SV Werder dagegen registrierte der Seismograph nur einmal halbwegs vergleichbare Erschütterungen der Öffentlichkeit, als das Pokalspiel gegen Kaiserslautern im Weserstadion nicht stattfinden durfte.
Fußballverband und Sportamt hatten den Platz zu früh gesperrt (Bildzeitung: „Pokalschummelei!"). Ansonsten herrschte Rehhagelsche Ruhe rund um den Verein, trotzdem sprachen sich die Leistungen der Bremer bis zu Berti Vogts herum. So macht der Bundestrainer (nach intensiven Logen-Gesprächen mit Freund Otto Rehhagel) zum Jahreswechsel gleich drei Bremern Hoffnung auf die Weltmeisterschafts-Teilnahme 1994 in den USA. Bernd Hobsch, Dieter Eilts und Oliver Reck.
Damit brachte das Jahr eine geradezu inflationäre Beteiligung des SV Werder an der Bilanz der Nationalmannschaft, die sich trotz der ordentlichen Statistik (nur eine Niederlage) mehr schlecht als recht durch das für sie weitgehend bedeutungslose Jahr 1993 schleppte. Doch die Leistungen der Elite-Abteilung ficht die Fußball-Fans hierzulande schon lange nicht mehr an: Sie liebten ihren Zeitvertreib 1993 trotz Nationalmannschaft inniger denn je, füllten massenweise die Stadien und lösten einen Boom aus, der gerade im Weltmeisterschafts-Jahr '94 nicht abflauen sollte. (rtw)
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