Nur ein Video, mehr nicht. Der Vorsatz ist meist der gleiche, das Ergebnis auch. Aus einem kurzen Clip werden zehn Minuten. Aus zehn Minuten wird eine Stunde. Von einem Video purzelt man ins nächste, stolpert von Thema zu Thema, kommt vom Hundertsten ins Tausendste.
Weit über eine Milliarde Mal wird Youtube am Tag von registrierten Nutzern aufgerufen. Es gehört zum Geschäftsmodell der Plattform, die Nutzer möglichst lange auf der Seite zu halten. Und das gelingt: Wer Youtube besucht, bleibt im Schnitt länger als eine Stunde. Das ist auch deshalb so, weil niemand auf Youtube auf sich allein gestellt ist. Man kann sich die Mühe machen und durch das Dickicht wühlen, das jede Minute um 300 Stunden Videomaterial wächst. Aber man muss nicht. Man kann auch auf Youtube und dessen Empfehlungen vertrauen.
In einer Leiste rechts neben einem Video schlägt einem der Konzern weitere Videos vor. Sie sollen dem gerade laufenden Bewegtbild ähneln. Was einem dort empfohlen wird, beeinflusst man zumindest in Teilen. Die abonnierten Kanäle und der eigene Standort etwa spielen eine Rolle. Das dürfte bei den Kanalempfehlungen nicht grundlegend anders sein. Sie findet man auf der Startseite und auf den Seiten der Kanäle unter der Rubrik „Ähnliche Kanäle“. Die Kanalempfehlungen beruhen auf den Algorithmen des Konzerns. Wie genau sie funktionieren, ist Betriebsgeheimnis. Aber sie funktionieren. Und das bedeutet nicht nur, dass Youtube Katzenvideo-Freunden weitere Katzenvideo-Kanäle vorschlägt. Das heißt auch, dass Nutzer mit rechten bis rechtsradikalen Einstellungen fast ausschließlich Kanäle empfohlen bekommen, deren Inhalte sie in ihren Überzeugungen bestärken.
AfD und NPD trennt nur ein Klick
Das ist das Ergebnis einer neuen Studie von Jonas Kaiser und Adrian Rauchfleisch. Die beiden Kommunikationswissenschaftler aus Harvard und Zürich haben untersucht, welche Kanäle Youtube den deutschen Nutzern nahelegt. Dabei wollten sie auch herausfinden, wie wichtig die Plattform für die politische Rechte in Deutschland ist. Ihr Ergebnis: Auf Youtube schafft sich die Rechte um die AfD ihr eigenes Paralleluniversum. Und Youtube hilft kräftig dabei mit.
Die Empfehlungen der Plattform erzeugen einen Mikrokosmos, abgeschottet von Widersprüchen und anderen Meinungen. AfD-Anhänger bleiben auf Youtube unter sich. Wer sich einen der AfD-Kanäle anschaut, bekommt weitere AfD-Kanäle sowie RT Deutsch, einen vom russischen Staat finanzierten Auslandsfernsehsender, empfohlen. Zum Rest von Youtube weisen die Kanalempfehlungen kaum einen Weg. Stattdessen sind die NPD und die Identitäre Bewegung immer nur einen Klick von der AfD entfernt.
Forscher glauben: Youtube-Empfehlungen haben Nebenwirkungen
Für ihre Studie wählten die Autoren 94 Kanäle aus, die sie dem rechten Spektrum zurechnen. Hinzu kamen 193 Parteikanäle, darunter auch Orts- und Jugendverbände, und die hundert erfolgreichsten deutschen Kanäle. Von diesen Seiten ausgehend haben Kaiser und Rauchfleisch im Schneeballsystem Kanäle gesammelt, die Youtube als ähnlich einstuft. Die Empfehlungen zeichneten sie mit Verbindungslinien zwischen den Kanälen nach. So entstand eine Karte des deutschen Youtube-Netzwerks. Sie zeigt, wie isoliert der rechte Rand auf der Plattform ist. Wie groß die rechte Filterblase auf Youtube ist. Und wie abgekapselt sie von den etablierten Parteien, großen Medienkanälen, Schminktipps und Katzenvideos existiert.

Fast 700 Kanalempfehlungen im rechten Kosmos beziehen sich auf andere Kanäle innerhalb der rechten Blase. Nur 30 Vorschläge verweisen auf Quellen außerhalb dieses Milieus. Während Anhänger der Union, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Linke in den Kanalempfehlungen ständig aufeinander verwiesen werden, führt kaum ein Pfad von der AfD zu den etablierten Parteien. Stattdessen kreisen die Tipps im rechten Paralleluniversum um die Kanäle der Identitären Bewegung, Pegida, der NPD und verschwörungstheoretischen Medien wie NuoViso.TV. Fast alle Wege in dieser rechten Endlosschleife führen dabei zu Kanälen der AfD oder RT Deutsch.
„Wer einmal drin ist, kommt nur schwer wieder raus“, sagt Jonas Kaiser. „Wenn man sich durch diese Kanäle klickt, bleibt man in der rechten Blase.“ Kaiser, der an der Harvard University forscht, sieht darin ein Problem. Er glaubt, Youtubes Empfehlungen könnten Nebenwirkungen haben. „Es ist problematisch, wenn Youtubes Algorithmen Einfluss auf unser Denken und unsere Weltsicht haben, ohne dass wir das wissen.“
„Man sollte keine Plattform alleine für Radikalisierung verantwortlich machen“
Das sieht nicht nur Jonas Kaiser so. Kürzlich nannte die Soziologin Zeynep Tufekci die Algorithmen hinter Youtubes Vorschlägen „Extremismus-Maschinen“. Kaiser weiß, dass den Kanalempfehlungen auf Youtube eine wichtige Rolle zukommt. Auch weil die Plattform im Vergleich zu anderen sozialen Medien eher passiv genutzt wird. Oft sitze man alleine vor Youtube und lasse sich berieseln. Dass Youtubes Algorithmen die Nutzer deshalb zwangsläufig radikalisieren, glaubt Kaiser aber nicht. „Man sollte keine Plattform alleine für Radikalisierung verantwortlich machen, das ist ein Zusammenspiel aus ganz unterschiedlichen Faktoren, sowohl offline als auch online.“
Das eigentliche Dilemma sieht Jonas Kaiser woanders: „Youtubes Bedeutung wird bislang häufig übersehen oder ignoriert.“ Sicher, politische Inhalte spielten auf der Plattform bislang eine eher untergeordnete Rolle. Die Nutzer schauten weiterhin vor allem Videos, in denen Schminktipps gegeben, Computerspiele getestet oder Drogeriemarkt-Einkäufe ausgepackt werden.
Doch zwischen absurden Tier- und Musikvideos habe sich längst eine rechte Szene herausgebildet. Viele dieser Kanäle präsentierten sich als Fernsehersatz. „In diesem rechten Spektrum gibt es Alternativmedien, die bestimmte Felder abdecken und ganz andere Themen behandeln, als es das klassische Fernsehen etwa tun würde“, sagt Kaiser. Dass Organisationen auf der nach Google am häufigsten aufgerufenen Website der Welt ungehindert rechtsextreme Positionen verbreiten können und darin sogar noch von der Plattform durch deren Empfehlungen unterstützt werden, kritisiert er.
Eine Diskussion gibt es nur bei Facebook
Im Fall von Facebook, sagt Kaiser, werde intensiv darüber diskutiert, welche Inhalte dort zu finden sein und empfohlen werden dürfen. „Dort haben wir eine große Diskussion, wie man etwa mit Fake News und Hate Speech umgehen soll.“ Bei Youtube dagegen gebe es diese Debatte bislang nicht. „Youtube läuft absurderweise unter dem Radar“, sagt Kaiser.
Um die Nutzer auf der Seite zu halten, schlägt Youtube ihnen Inhalte vor, die ihre Weltsicht bestätigen – selbst, wenn das eine rechtsradikale ist. „Wir müssen anfangen, auch über die Verantwortlichkeit von Youtube oder Google zu reden“, sagt Jonas Kaiser. Überhaupt, findet er, sollten Politik und Gesellschaft einsehen, dass Youtube mehr ist als eine etwas abwegige Art der Freizeitgestaltung von Jugendlichen. Mehr als Schminktipps und Katzenvideos. Man müsse die Plattform endlich ernstnehmen. Denn der rechte Rand tue das schon längst.