
Herr Mertesacker, für Sie wird es sicher ein ungewohnter Sommer, vier Jahre nach dem Gewinn des WM-Titels in Rio. Haben Sie schon Pläne?
Per Mertesacker: Der Plan ist, drei Monate so fußballfrei wie möglich zu verbringen. Aber klar werde ich die deutschen Spiele verfolgen. Das Fansein aufleben zu lassen, welches abhandengekommen ist, wo man selbst dabei war – darauf freue ich mich. Es war vor zwei Jahren schon komisch bei der EM. Aber die WM ist noch mal was anderes, das muss ich zugeben. Für mich ist es mega-spannend zu sehen, wie sich die Mannschaft während des Turniers entwickeln wird.
Im Vergleich zu Brasilien?
Nicht im Vergleich, denn die Ausgangslage ist eine andere. Die Erwartungshaltung ist unglaublich. Man hat das Gefühl, dass wir den Titel verteidigen müssen. Das war vor vier Jahren anders. Aber es wird spannend, wie sich die Mannschaft findet, wie man mit Rückschlägen umgeht, wie sich die neuen Spieler einfügen. Es gab 2014 Momente, wo wir teilweise schrecklichen Fußball gespielt haben. Aber wir haben uns davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ich hoffe, dass die Jungs, die schon mal dabei waren, wissen, was vor Ort abgehen kann. Wie geht man mit Dingen um, die man nicht beeinflussen kann? Es wird eine neue Story geschrieben werden.
Wie meinen Sie das?
Vom Campo Bahia muss man weg. Das ist noch in den Köpfen, aber ganz ehrlich – damals haben wir anfangs auch gedacht: Was ist das denn, ein Holidaycamp? Das hat seine Zeit gebraucht. Man muss das neue Camp mit Leben füllen. Es wird nie gleich werden, aber ich hoffe, dieses Gefühl, diese Magie kommt zurück.
Wie wichtig ist dieses Gefühl?
Es ist mit das Wichtigste. Diese Momente, in denen man sich findet. All die Erwartungshaltung, die jetzt aufgebaut wird, kann in einem Moment zerplatzen. Das war lehrreich 2014 gegen Algerien, als wir fast ausgeschieden wären. Oder als sich Spanien und Italien aus dem Turnier verabschiedeten und man dachte: Ups, jetzt geht aber was. Das sind Momente, die man nicht vorhersehen kann. Dass wir gute Voraussetzungen haben, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber das bringt dir spätestens dann nichts mehr, wenn der Ball rollt.
Sagen Sie trotzdem, dass Deutschland den wohl besten Kader aller Zeiten hat?
Ja. Diese Mannschaft ist ja gewachsen. 2006 hatten wir 12, 13, die auf Topniveau waren, jetzt jeder, der dabei ist, und einige, die gar nicht mitfahren.
Joachim Löw hat die Qual der Wahl …
Er ist extrem gefragt, klar. Aber er ist durch diesen Titelgewinn so gelassen geworden, das ist unglaublich. Er hat in Brasilien Entscheidungen treffen müssen, die nicht einfach waren – das wird wieder so sein. Er schreckt da vor nichts zurück. Wichtig wird sein, dass er wieder so motivierend wirken kann – auf alle. Dass er alle wieder ins Boot holt, die richtigen Worte vor den Spielen findet. Und dann wird es davon abhängen, wie man mit Unwägbarkeiten umgeht. Zwei Stunden im Stau hier, drei Stunden Verspätung da. Das sind Dinge, da kann man im Vorfeld noch so viel reden – damit musst du umgehen, wenn es so weit ist. Gerade in Russland. Gerade wenn du noch keine WM erlebt hast.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass Manuel Neuer dabei ist? Viele sagen ja mittlerweile, dass ter Stegen genauso gut ist.
Es ist toll, dass wir diese Situation haben und sagen können: Dann kommt halt der Nächste. Wir fallen weich momentan, auch auf der Torhüterposition. Dennoch bin ich der Meinung, dass Manuel für den X-Faktor unglaublich wichtig ist. Er ist ein Charakter, den man während eines Turniers um sich herum haben will. Als Typ ist er nicht zu unterschätzen, auf dem Platz ohnehin nicht. Ich erinnere an das Achtelfinale 2014 gegen Algerien oder ans Halbfinale gegen Brasilien, als er beim Stand von 5:0 drei, vier Bälle gehalten hat, die kein anderer hält.
Mit Marco Reus und Ilkay Gündogan sind zwei Spieler zurück, die die großen Turniere aufgrund von Verletzungen verpasst haben. Können auch sie ein X-Faktor werden?
Sind sie fit, sind sie beide in der Lage, bei einer WM zu explodieren – genau solche Energien brauchen wir. Das kann dem ohnehin schon bestehenden Gerüst den entscheidenden Schub geben.
Sie haben gesagt, dass Sie England in diesem Jahr viel zutrauen – warum?
Entscheidend wird sein, wie sie die lange Saison überstanden haben. Wie frisch ist die Mannschaft im Sommer? Das war in der Vergangenheit oft das größte Problem. Es wurde viel umgekrempelt, Gareth Southgate hat neue Denkweisen eingeführt. Und sie haben einen tollen Kader. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, dass sie den Bock umstoßen. Ich hoffe fast, dass es nicht in diesem Jahr der Fall ist.
Das Gespräch führte Heiko Ostendorp.
Per Mertesacker gewann vor vier Jahren den WM-Pokal in Rio de Janeiro. Nun kann der frühere Werderaner nach drei Teilnahmen als Spieler die Weltmeisterschaft als Fan genießen. Darauf freut sich der 33-Jährige, der nach seinem Karriereende das Nachwuchsleistungszentrum des FC Arsenal in London leitet, besonders.