
Es dauert nicht mehr lange bis zum Anpfiff des ersten WM-Spiels 2018. In den Schaufenstern der Bremer Innenstadt werden leichte Kleidungsstücke für den Sommer ausgestellt. Luftige Kleider, kurze Hosen, Sonnenbrillen, farbenfrohe Bikinis. Auf dem Werbeplakat eines Supermarktes lächelt eine junge Frau vor einer südländischen Landschaft. Bunte Flip-Flops stapeln sich in den Wühlkörben neben dem Eingang einer Drogerie. An der Marketingstrategie der meisten Geschäfte ist leicht zu erkennen, dass die Urlaubsaison naht. Kaum aber, dass eine Fußball-Weltmeisterschaft bevorsteht.
Nur wenige Läden haben eine Ecke ihrer Vitrine deutschen Fan-Artikeln, Trikots oder WM-Werbung gewidmet. Auch die Deutschland-Fähnchen, die vor früheren Großereignissen auf Autos und Balkonen flatterten, sind dieses Jahr selten zu sehen. Noch zumindest. Die Begeisterung könnte je nach Ergebnis erst nach den ersten Partien noch steigen, meinen Verkäufer und Experten. „Auch vor der WM in Brasilien war das Interesse eher gering“, erinnert sich Sven Grube, stellvertretender Restaurantleiter bei Le Buffet. Erst nach und nach habe sich die Stimmung bemerkbar gemacht. Im Restaurant sind Gerichte und Produkte in den Deutschlandfarben ausgestellt. Die Angebote seien aber noch nicht so stark angenommen worden, bestätigt der Vizeleiter. Bisher habe er das Gefühl, dass das Interesse für die WM dieses Jahr eher gering sei. „Aber mal schauen“, fügt er hinzu.
Eine Verkäuferin von Fanartikeln pflichtet ihm bei. Im Geschäft glänzen die Fußballbälle mit WM-Logo, die Trikots der DFB-Mannschaft schmücken die Kleiderpuppen. Doch so häufig seien die WM-Artikel noch nicht gekauft worden. „In der Regel geht es aber kurz davor los“, sagt sie. Erst dann soll das große Rennen um das letzte Fähnchen und die letzte schwarz-rot-goldene Blumenkette beginnen. „Und dann werden die Kunden traurig, wenn sie nichts mehr kriegen“, fügt sie hinzu.
So ähnlich klingen auch die Erfahrungen anderer Verkäufer, mit wenigen Ausnahmen. „Auch bei uns sind die WM-Angebote noch gar nicht angenommen worden“, sagt Sara Petrova, Senior Verkäuferin in einer Vodafone Filiale. Allerdings hätten sich Kunden darüber erkundigt, ob sie mit ihrem Tarif die Matches schauen könnten oder mehr Datenvolumen bräuchten. Dass der Verkauf bisher sehr gut verlaufen sei, behaupten die wenigsten. Eine deutlich gestiegene Nachfrage für WM-Artikel im Vergleich zu den Vorjahren kündigt lediglich die Mitarbeiterin eines Gemischtwarenladens an.
Ob die WM-Stimmung dieses Jahr spät zünden oder bis zum Schluss lauwarm bleiben wird, kann auch der Kulturwissenschaftler Frank Müller nicht vorhersagen. Müller hat jahrelang die Fußballfankultur erforscht – vor allem in Bremen. „Ich habe dazu keine genauen Daten, aber mein Eindruck ist, dass die Stimmung noch nicht richtig da ist“, sagt er. Dafür könne es auch Erklärungen geben, die nicht unmittelbar mit der Leidenschaft für den Sport zu tun hätten.
Zum einen gebe es teilweise eine gewisse Skepsis gegenüber dem Austragungsland, zum anderen habe es bei der WM-Vergabe „skandalträchtige Angelegenheiten“ gegeben. Nicht nur die Affäre um die WM-Vergabe an Deutschland 2006: Auch die Entscheidung der Fifa für Katar und Russland als Austragungsorte ist sofort in die Kritik geraten. „Das angespannte Verhältnis zwischen Deutschland und Russland nach dem Geschehen in der Ukraine sowie der Dopingskandal könnten auch dazu beitragen“, fügt der Wissenschaftler hinzu.
Dies mache sich auch in den Regalen der Supermärkte bemerkbar. Hier seien eher wenige thematische Angebote zu finden. „Vor der WM in Südafrika erinnere ich mich noch, dass man Chips mit afrikanischen Gewürzen und ähnliche Produkte finden konnte – heute scheint es nicht so zu sein, dass russische Produkte besonders angepriesen werden“, sagt Müller. Die Stimmung gegenüber dem Austragungsort scheine nicht so positiv zu sein. Allerdings bleibt der Forscher optimistisch: „Wenn die WM startet, werden all diese Bedenken vorbei sein, vermute ich“. Auch Kritiker würden dann die Flaggen an die Balkonen hängen und Autokorsos im Fall eines Sieges veranstalten, prophezeit er. Jedoch die Tatsache, dass es weniger große Public-Viewing-Feste gebe, trage dazu bei, dass die Stimmung weniger sichtbar werde.
Bei Public Viewings – egal ob gut geplant oder improvisiert – war auch bei den vergangenen WM-Turnieren die Euphorie erst richtig erkennbar geworden. Egal ob Schulter an Schulter vor einer überdimensionalen Leinwand oder auf quietschenden Stühlen vor einem improvisierten Fernsehregal: Die eigene Mannschaft feuern viele Fans am liebsten in der Gruppe an.
Mit der Atmosphäre, die bei dem Sommermärchen 2006 herrschte, sei ein Vergleich auch nicht sinnvoll, betont Müller. Damals spielte Deutschland zu Hause. Die Fußballspiele versetzten das Land in einen feierlichen Ausnahmezustand. Die Flaggen teilnehmender Nationen waren nicht nur an Fenstern und Autos zu sehen, sondern auch auf den Gesichtern der Fans – oft schon Stunden vor Beginn der jeweiligen Partie. Doch auch im Vergleich mit der Stimmung der nachfolgenden WM-Turniere bleibt die diesjährige noch ein wenig blass. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es allerdings noch zu früh, um sich ein Urteil zu bilden, schätzt der Forscher ein.
Und wie sehen das die Bremer? Eine kleine Straßenumfrage ergibt ein klares Bild: Viele Fußballanhänger sind dieses Jahr vom WM-Fieber noch nicht so richtig erfasst worden. „Ich bin Fußballfan durch und durch und war noch nie so desinteressiert“, sagt Martin Alex. Warum, könne er sich selbst auch nur schwer erklären: „Vielleicht liegt es am negativen Touch von Russland, weiß ich nicht“. Der 48-Jährige bleibt aber positiv: Wenn es losgeht, könne die Situation immer noch kippen.
Die Politik des Gastgeberlandes verstimmt auch den 54-jährigen Ralf Witt. „Ich habe nicht so viel vorbereitet. Ich werde den Fernseher einschalten und, wenn es nicht läuft, schalte ich wieder ab.“ Bei einigen ist die WM-Vorfreude dennoch zu spüren. Wie bei einem Paar, das gerade mit Kinderwagen unterwegs ist. „Ich bin sehr gespannt“, sagt die 26-jährige Julia Ken. „Und auch mein Freund – aber er kann die Spiele nicht gucken, da er in der Zeit arbeiten muss“, fügt sie hinzu. Ein resignierter Seufzer des jungen Mannes bestätigt die Aussage. Dem Paar schließt sich Heike Kersten zu: „Ich bin sehr gespannt und freue mich, dass ich sogar eine kleine Fahne geschenkt bekommen habe“. Alleine wolle sie die Spiele jedoch nicht schauen: „Ich möchte zu einem Public Viewing“, sagt sie.
Nur mittelmäßig interessiert ist hingegen Kurt Hohman. „Vor vier Jahren war ich interessierter“, sagt er. Das liege aber nicht an Russland, sondern an der Nationalmannschaft. „Dieses Jahr hat es zu viel Tumult gegeben“, fügt der 72-Jährige hinzu. Skeptisch ist auch ein junger Mann, der mit Kind vor einem Geschäft wartet: „Ich bin doch Fußballfan, aber irgendwie hat mich das Fieber noch nicht erfasst“, sagt er. Ihm schließt sich Bruno Schröder an: „So richtig ist es gar nicht angekommen.“ Er plane, es einfach auf sich zukommen zu lassen, sagt der 67-Jährige. Vielleicht kommt ja doch noch irgendwann Stimmung auf. Zunächst aber gilt es, auf den ersten Anpfiff zu warten.