Eine Straße wie den Stewart Cassiar Highway mit mehr als 700 Kilometern Länge in ein paar Zeilen zu beschreiben, ist nicht einfach: Sie ist vor allem einsam und neben dem Alaska Highway die einzige Möglichkeit, auf dem Landweg von Kanada nach Alaska zu gelangen. 60 Kilometer entfernt vom Stewart Cassiar Highway liegt der Ort Stewart am Ende eines lang gezogenen Meeresarms des 90 Kilometer langen Portlandkanals.
Stewart wurde vor etwa 120 Jahren gegründet und hatte zeitweise als bedeutender Minenort bis zu 10.000 Einwohner. Heute leben dort noch etwa 400 Menschen. Es gibt mehrere Unterkünfte, ein paar Restaurants, einen Supermarkt – der alles anbietet von Schnürsenkeln bis zum Käse – und sogar eine kleine Krankenstation. Seit zwei Jahren haben die Einwohner außerdem Handyempfang, zumindest immer mal wieder. Mir macht es Spaß, dort an den Hausfassaden vorbeizuschlendern, alte Baumaschinen und Oldtimer zu entdecken. Einiges scheint noch aus der Pionierzeit an den Straßenrändern zu liegen.
Das große Mahl der Bären
Nur zwei Kilometer entfernt von Stewart liegt Hyder in Alaska, dort leben 80 Menschen. Die Straße endet in einer Sackgasse, daher gibt es auf alaskischer Seite keine Kontrollen. Nur wer wieder nach Kanada einreisen möchte, muss seinen Ausweis vorzeigen. Früher seien viele Menschen über die Grenze gefahren, um sich in einer der Bars zu betrinken, erzählt ein Dorfbewohner. Denn die Preise waren in Alaska weit niedriger. Dem Treiben setzten die Dorfpolizisten aus Kanada aber irgendwann ein Ende. Etwa sechs Kilometer flussaufwärts gibt es einen der besten Plätze, um Grizzlys zu beobachten. Meist kommen sie Mitte Juli, wenn die Lachse flussaufwärts wandern, um zu laichen. Wer die Grizzlys beim großen Mahl beobachten möchte, sollte online ein Ticket erwerben.

Weil er in allen Blau- und Grüntönen schimmert und sein nicht zu kaltes Wasser zum Bad einlädt, wird der Boyasee auch als das Bora Bora Kanadas bezeichnet.
Von Stewart geht es weiter nach Norden: Der nächste Supermarkt und das nächste Mal Handyempfang wird es vermutlich erst in Dease Lake geben, das fast 400 Kilometer entfernt von Hyder liegt. Als Radfahrer muss ich daher meine Verpflegung, die in den Packtaschen verstaut wird, für einige Tage im Voraus planen.
Manche Etappen haben es in sich: Es sind gar nicht mal die 120 Kilometer, die vor mir liegen, oder die Höhenmeter. Es ist eher die Tatsache, dass dazwischen wenige Orte sind, an denen man eine Pause machen kann. Während dieser Strecke passiere ich lediglich zwei Parkplätze mit Plumpsklo und drei einsame Häuser oder Blockhütten. Ab mittags steigt die Temperatur auf 30 Grad Celsius. Fünf Liter Wasser habe ich auf dem Fahrrad dabei, insgesamt trinke ich aber oft mehr – sieben oder acht Liter. Das Wasser bekomme ich von Autofahrern, die anhalten. Schatten gibt es an der Strecke ebenfalls selten, es sei denn, man kraxelt zu einem der Bäche hinunter.
Ein einheimisches Paar, das eine kleine Lodge betreibt, erzählt mir, dass es im Rhythmus von zwei Wochen 1300 beziehungsweise 1400 Kilometer für den nächsten Einkauf nach Whitehorse oder Terrace fährt. Das wäre so, als würde man zum Einkaufen von Lebensmitteln von Bremen nach Venedig fahren – entlang der Strecke würden aber keine 1000 Menschen leben.
Da ich meist bereits um 6 Uhr auf dem Rad bin, kann ich bis zum Mittag die ersten 60 Kilometer bei erträglichen Temperaturen fahren. Irgendwann merke ich, dass mir schwindelig wird. Ich habe einen leichten Sonnenstich und suche mir einen kühlen Bach, den ich mir mit Mücken und Pferdebremsen teile. Aber irgendwo auf der Strecke schlappzumachen, könnte fatale Folgen haben, denn ab dem späten Nachmittag fährt in meine Richtung vielleicht noch ein Auto pro Stunde an mir vorbei.
Irgendwann erreiche ich Jade City, einen Ort mit 30 Einwohnern, bekannt für den Jadeabbau. Heute besteht das Dorf im Wesentlichen aus einer kleinen Unterkunft und dem Laden, in dem man Steine und natürlich vor allem Jade kaufen kann. 20 Kilometer abseits des Highways gab es bis Anfang der 1990er-Jahre die alte Minenstadt Cessiar. Sie wurde von einigen Tausend Menschen bewohnt, aber irgendwann aufgegeben. Der Ort wurde weitestgehend abgebaut, dort steht nur noch die Kirche. Der Zutritt ist nicht erlaubt.
Das Bora Bora Kanadas
Boya Lake ist ein glasklarer See, an dem es einen Campingplatz sowie einen Bootsverleih gibt und kleine, sandige Badestrände. Die besondere Farbe und dass man dort im hohen Norden auch bei angenehmen Temperaturen schwimmen kann, brachte dem See den Spitznamen Bora Bora Kanadas ein. Insbesondere an den Sommerwochenenden füllen sich die Strände schnell.
Am nächsten Tag ziehen immer mehr Rauchwolken aus Nordwesten herüber, teilweise regnet es Aschepartikel, obwohl ein Feuer etwa 50 Kilometer entfernt wütet. Ich höre, dass das Feuer in einem Gebiet von
25 bis 30 Quadratkilometern brennt. Im vergangenen Sommer wüteten die Waldbrände aufgrund der langen Trockenheit und der hohen Temperaturen besonders stark im Westen Kanadas. Ein Einheimischer erzählt mir, dass der Highway wegen der Rauchentwicklung geschlossen werden könnte. Das wäre das Aus für meine Reise, denn dann blieben zwei Möglichkeiten: Auf unbestimmte Zeit zu warten oder 700 Kilometer zurückzufahren. Ich bin zwar zäh, aber nicht lebensmüde und lege das Rad am nächsten Morgen auf die Ladefläche eines Pick-ups, der einem netten Kanadier gehört, der nach Watson Lake fährt. Das war eine richtige Entscheidung, denn die Hälfte der Strecke, etwa 60 Kilometer, fährt ein sogenanntes Pilot Car, ein Lotsenfahrzeug voraus, das den Verkehr in dem Gebiet regelt.

Im Schilderwald bei Watson Lake sollen etwa 80.000 internationale Schilder hängen.
So komme ich schließlich nach Watson Lake, direkt am Alaska Highway. Dort leben knapp 1000 Menschen. Damit ist der Ort der drittgrößte im Yukon Territory. Diese Provinz ist zwar anderthalbmal so groß wie Deutschland, hat aber keine 45.000 Einwohner. Dort bleibe ich zunächst, weil noch viel Rauch in der Luft hängt und es zwischendurch Asche regnet. Rauch und Radfahren sind keine gute Kombination. Nach zehn Tagen in der Wildnis kommt mir der Ort wie die Wiege der Zivilisation vor, und das erste Bier schmeckt unbeschreiblich gut.
In Watson Lake steht übrigens auch ein Schilderwald, der irgendwann beim Bau des Alaska Highways von einem Soldaten begonnen wurde, der dort ein individuell gestaltetes Schild aufstellte, um den Bauarbeitern den Weg zu weisen. Zehntausende folgten seitdem seiner Idee und stellten mehr als 80.000 Schilder auf, die aus aller Welt stammen. Es werden täglich mehr, und die Gemeinde pflegt den Schilderwald. Von Watson Lake geht es schließlich weiter in Richtung Whitehorse – dem Abschluss meiner Radtour.