Im Jahr 2015 wurden 616 Menschen in Bremen vermisst gemeldet. Armin Gartelmann, Leiter der Vermisstenstelle Bremen, erklärt im Interview, wie die Polizei nach ihnen sucht.
Wie viele Menschen gelten derzeit in Bremen als vermisst?
Armin Gartelmann: Ganz aktuell werden in Bremen sechs Menschen vermisst – ohne die Gruppe der als vermisst gemeldeten Flüchtlinge. Diese Zahl ändert sich täglich. Das liegt daran, dass wir es mit ganz unterschiedlichen Gruppen von vermissten Personen zu tun haben: mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und unbegleiteten minderjährigen Ausländern, die vermisst werden. Es sind in der Regel aber nicht die spektakulären Vermisstenfälle, die man – inspiriert durch das Fernsehen – immer dahinter vermutet.
Wer sind die sechs Vermissten?
Vier Jugendliche und zwei Erwachsene. Das ist eine typische Verteilung.
Typisch? Das heißt, es werden vor allem Jugendliche vermisst gemeldet?
Der überwiegende Teil der Vermissten sind Mädchen zwischen 14 und 18 Jahre, sie machen ein Drittel aus. Fast jede von ihnen hat eine eigene Geschichte, die ganz häufig etwas mit dem Sammelbegriff Heim, getrennt lebenden Eltern, Erziehungsproblemen, Schulvermeidung zu tun haben. Und die häufig auch nicht zum ersten Mal weg sind, wobei das Wegsein oft auch ein Stück Entwicklung zum Erwachsenwerden ist. Sind die vermissten Jugendlichen etwa in Heimen untergebracht und über eine gewisse Stundenzahl oder Uhrzeit verschwunden, müssen sie immer als polizeilich vermisst gemeldet werden. Auch dann, wenn kein sehr großer Grund zur Sorge besteht.
Besteht nicht immer Grund zur Sorge, wenn ein minderjähriges Mädchen oder ein Junge als vermisst gemeldet werden?
Grundsätzlich natürlich. Aber: Es gibt Jugendliche, die beispielsweise schon 15 Mal als vermisst gemeldet wurden, weil sie immer wieder einmal verschwinden oder ausreißen. Wenn wir die Geschichte dieser Jugendlichen bereits kennen, hilft uns das bei der Einordnung und dabei, wo wir suchen können. Ein sehr großer Teil dieser Vermisstenfälle löst sich nach wenigen Tagen auf. Einige werden über diese polizeilichen Maßnahmen gefunden, andere kommen zurück. Dann bekommen wir einen Anruf von der Einrichtung oder den Eltern, dass sie wieder da sind. Oftmals allerdings ohne zu erfahren, was passiert ist.
Gibt es bestimmte Orte in Bremen, an denen sich diese Jugendlichen häufig aufhalten und wo die Polizei gute Chancen hat, sie zu finden?
In den vergangenen Jahren hat sich der Bahnhof als ein Sammelpunkt herausgestellt. Wenn wir es mit sogenannten alten Bekannten zu tun haben, wissen wir oft auch, bei wem sie sich aufhalten könnten.
Wie sucht die Bremer Polizei nach Vermissten?
Jeder Vermisste wird in dem Suchsystem Inpol gespeichert, sodass die Polizei bundesweit die Personalien abfragen kann. Das kann bei Bedarf auf andere Suchsysteme ausgeweitet werden, wenn es einen Bezug ins Ausland gibt. Und in der Regel gibt es Durchsagen mit der Personenbeschreibung an die Streifenwagen. Für uns ist es sehr wichtig, die Geschichte dieser Jugendlichen zu ergründen. Sie ist der Schlüssel: um sie zu finden, aber auch um einordnen zu können, welche Sorgen wir uns machen müssen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Handelt es sich etwa um ein Mädchen, das eine Vorgeschichte mit psychischen Problemen hat, schon einmal Tabletten genommen und sich geritzt hat, ist das ein anderer Ansatz, als wenn ich einen Anruf aus einer Einrichtung bekomme, aus der ein Jugendlicher zum x-ten Mal nach einem Streit mit einem Betreuer wutentbrannt verschwunden ist. Das heißt, dass ich mir bei dem Mädchen, das zuvor noch nie vermisst wurde und diese Vorgeschichte hat, andere Sorgen machen muss. Das heißt nicht, dass ein Vermisster wichtiger ist als der andere. Es geht um die Einschätzung der Gefährdungslage im Einzelfall. Zum Vermisstsein gehört jedes Mal eine Geschichte. Dazu gehört auch die des familiären und sozialen Umfelds, daraus ergeben sich die naheliegenden Maßnahmen für die Suche. Wir nennen das auch Sozialanamnese.
Eine andere Gruppe der Vermissten sind ältere Menschen. In den Medien werden immer wieder Suchmeldungen veröffentlicht – gefühlt kommt das viel häufiger vor, oder geht die Polizei heute eher mit solchen Suchmeldungen an die Öffentlichkeit?
Ältere und vor allem demente Menschen sind die zweitgrößte Gruppe bei den Vermisstenmeldungen. Und das ist definitiv mehr geworden. Da die Menschen desorientiert sind, kann das lebensgefährlich werden: weil sie unterkühlen, sich verletzen können. Da gibt es einige Erfahrungswerte, die wir bei der Fahndung berücksichtigen.
Welche sind das?
Sehr häufig suchen Menschen mit Demenz, die in einer Einrichtung untergebracht sind, ihre alte Heimatadresse auf. Erst vor einer Woche hatten wir solch eine Geschichte: Ein älterer Mann ist bereits zum zweiten Mal zu seiner alten Wohnung gegangen, den Rollator hat er ins Gebüsch gefahren, damit ihn niemand findet, mit einem versteckten Zweitschlüssel ist er in die Wohnung gekommen. Auf das Klingeln an der Tür hat er nicht reagiert. Die Polizeibeamten haben sich Zutritt verschafft, der ältere Herr saß in einem Ohrensessel.
Eine sehr traurige Geschichte. Aber nicht immer nehmen sie dann doch noch ein gutes Ende.
Wenn es um ältere, demente Menschen geht, ist in jedem Fall Eile geboten. In der Regel kann man zwar davon ausgehen, wenn ihnen nichts passiert, können sie eine Nacht überleben. Aber: Es gibt auch die anderen Geschichten, die nicht gut ausgehen. Deshalb gehen wir in solchen Fällen sehr schnell auch mit Fotos an die Öffentlichkeit, wenn die Vermissten nicht an vermuteten Orten auffindbar sind. Für die Veröffentlichung müssen wir uns immer die Genehmigung der Angehörigen einholen.
Sucht die Polizei nach Vermissten neben Zeitung, Radio und Fernsehen auch über soziale Medien wie Facebook?
Nein, noch nicht, die Facebook-Fahndung der Bremer Polizei befindet sich im Aufbau.
Nichtsdestotrotz tun das oft die Angehörigen selbst...
Ich will nicht sagen, dass man das nicht tun soll. Und auch nicht, dass das nicht Erfolg versprechend ist. Aber man muss sich im Klaren darüber sein, dass das möglicherweise zu Problemen führen kann, wenn der Vermisste wieder da ist.
Was zum Beispiel?
Eine depressive Person bekommt einen Krankheitsschub, verschwindet vom Arbeitsplatz, wo sie relativ offen damit umgegangen ist. Die Angehörigen machen sich Sorgen, stellen alle Informationen über sie, ihre Krankheit und Fotos ins Internet. Was passiert, wenn sich diese Person später bewirbt und der künftige Arbeitgeber ihre Geschichte erfährt? Den Job bekommt sie bestimmt nicht. Und auch einer 17-Jährigen, die wegen Liebeskummer kurzzeitig verschwunden ist, tut man nicht unbedingt einen Gefallen damit, wenn man das auch viele Jahre später noch im Netz findet. Das ist ganz schwierig, aber ein Patentrezept habe ich dafür auch nicht.
Das heißt: In der Facebook-Fahndung der Polizei wird künftig nicht nach Vermissten gesucht?
Es würde zumindest ein Einzelfall bleiben. Anders kann es sich mit unbekannten Toten verhalten, aber immer nach Absprache. 2015 wurden im Land Bremen 616 Personen vermisst. Es wurden aber mehr Vorgänge bearbeitet, weil dazu neben Anfragen aus anderen Bundesländern und dem Ausland auch die unbekannten Toten gehören, die über eine lange Zeit nicht identifiziert werden konnten. Diese Zahl ist steigend.
Warum?
Man kümmert sich nicht mehr umeinander. Es gibt immer mehr Menschen, die alleine leben, wenig Kontakt zu anderen haben. Auch nicht zu den Nachbarn. Wenn dann ein Toter außerhalb seiner Wohnung entdeckt wird, dort einige Zeit den Wetterbedingungen und dem natürlichen Verwesungsprozess ausgesetzt ist, wird es sehr schwer, ihn oder sie zu identifizieren. Erst recht, wenn ihn niemand vermisst.
Nicht alle Vermissten tauchen wieder auf. Es gibt Menschen, die seit vielen Jahren verschwunden sind. Damit geht die Polizei auch über das Fernsehen an die Öffentlichkeit, zum Beispiel in der Sendung „Aktenzeichen XY“, wenn ein Verbrechen vermutet wird. Ist Ihnen ein Fall besonders in Erinnerung geblieben?
2014 haben wir über die ZDF-Sendung nach Hinweisen zum Verschwinden von Sybille Lars gesucht. Die 39-jährige Frau ist im April 2004 spurlos verschwunden, zuletzt wurde sie in der Nacht vom 8. auf den 9. April in der Carl-Goerdeler-Straße in der Vahr gesehen. Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft gehen von einem Tötungsdelikt aus. Mit der Fernsehsendung ist die Hoffnung verknüpft, eventuell doch noch auf Zeugen zu stoßen und neue Hinweise zu bekommen.

Die Bremerin Sybille Lars ist seit 2004 spurlos verschwunden.
Hat die Sendung die erhofften Hinweise gebracht?
Nach über zehn Jahren war das natürlich überschaubar, aber es gab einige Hinweise, die wir noch einmal überprüft haben. Allerdings ohne neue konkrete Ansätze.
Gab es einen konkreten Anlass, den Fall noch einmal aufzurollen?
Ungelöste Fälle wie dieser werden turnusmäßig neu überprüft. Wenn die Polizei alle herkömmlichen Mittel ausgeschöpft hat, ist die Fernsehsendung ein weiterer Versuch.
Wie lange bleiben diese ungelösten Fälle verschwundener Menschen bei den Akten?
Vermisste Personen können grundsätzlich nach zehn Jahren für tot erklärt werden. Die Polizei bewahrt die Akten jedoch für 30 Jahre auf.
Welche Maßnahmen stehen der Polizei bei der Suche nach Vermissten zur Verfügung?
Neben der Befragung von Angehörigen, Freunden, Arbeitskollegen und anderen Kontaktpersonen reicht das von der Durchsuchung der Wohnung über das Absuchen bestimmter Gebäude und Landstriche bis hin zum Abgleich bestimmter Daten wie Telefon- oder Bankverbindungen bis hin zur Handyortung für ein Bewegungsprofil, der Öffentlichkeitsfahndung und dem Einsatz von Personenspürhunden. Allerdings sind diese Maßnahmen an sehr enge rechtliche Voraussetzungen gebunden und kommen nur bei einem ganz konkreten Anlass in Betracht, es kommt immer auf die Umstände an.
Zur Aufgabe der Vermisstenstelle gehört seit einiger Zeit auch die Suche nach vermisst gemeldeten Flüchtlingen. Um welche Personen handelt es sich dabei?
Das sind meistens unbegleitete minderjährige Ausländer, die sich für einige Zeit in Bremen aufhalten, hier registriert werden und dann wieder verschwinden. Manchmal sind sie nur eine Nacht da, solch einen Fall haben wir immer wieder. Manche einige Tage, Wochen oder Monate.
Wohin verschwinden sie?
Oft gehen sie dorthin, wo bereits Angehörige sind, zum Beispiel in ein anderes Bundesland. Die Suche nach ihnen ist in der Regel erfolglos und extrem aufwendig.
Warum?
Weil sie keine Papiere haben, es in Datenbanken keine Fotos zu dem Namen gibt, den sie angeben. Wir müssen dann in allen Suchsystemen nach diesen Namen fahnden, in Behörden anderer Bundesländer und teilweise im Ausland anrufen. Leichter wäre diese Aufgabe, wenn alle von Beginn an erkennungsdienstlich erfasst worden wären. Das Schwierige ist, dass wir nicht wissen, wo sie herkommen, wo sie sich vorher aufgehalten haben, wer ihre Kontaktpersonen sind, wer sie selbst sind. Diese Aufgabe bindet die Vermisstenstelle enorm, zeitlich und personell. Und das hat Auswirkungen auf die andere Arbeit.
Wie viele Mitarbeiter sind mit der Suche nach Vermissten gefasst?
Ich bin Hauptsachbearbeiter der Vermisstenstelle, dazu gibt es eine Urlaubsvertretung.
Das Interview führte Sabine Doll.