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Russland-Ukraine-Konflikt "Russland wird vermutlich keine Invasion riskieren"

Die Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze werden international mit Sorge betrachtet. Osteuropa-Experte Heiko Pleines darüber, was Deutschland in der Situation tun kann.
12.12.2021, 05:00 Uhr
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Von Patricia Friedek

Herr Pleines, Olaf Scholz und Robert Habeck haben ihre Besorgnis um die Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze ausgedrückt. Was kann Deutschland in der aktuellen Situation als EU- und NATO-Mitglied tun?

Dabei kommt es darauf an, was man erreichen will. Geht es um Prinzipien? Wollen wir in dem Fall etwa zeigen, dass in Europa Grenzen nicht mehr mit Armeen bedroht oder verschoben werden sollen? Oder wollen wir rein pragmatisch eine Lösung finden, dass die Krise nicht eskaliert? Da sind unterschiedliche Handlungen erforderlich. Zudem ist klar, dass Sanktionen nicht immer automatisch wirken. Auch wenn wir bei uns im Lande Strafen einführen, heißt das ja nicht, dass keiner mehr dagegen verstößt. Das bedeutet vor allem, dass wir ein deutliches Signal senden.

Ursula von der Leyen hat nun auch schon mit Sanktionen seitens der EU gedroht. Davon gab es in der Vergangenheit genügend. Wie wirksam sind die dann überhaupt?

Wenn es um Prinzipien geht und um potenzielle Nachahmer, macht man klar: Wer mit einer Armee einseitig in Europa Grenzen verschiebt, der kriegt Probleme. Das ist ein wichtiges Signal, bei dem es Sinn ergibt, es zu senden – selbst, wenn Russland es ignoriert. Bisher bestand die Hoffnung, dass es nicht zu einer Situation wie der jetzigen kommt, in der Russland sich ein weiteres Stück Ukraine einverleiben könnte, ohne dass jemand etwas dagegen unternimmt. Die Wirksamkeit hängt natürlich auch von der Art der Sanktionen ab: Es gibt die, die richtig wehtun, und welche, die eher symbolisch sind.

Und welche tun richtig weh?

Bisher sollten die Sanktionen vor allem smart sein, also gezielt: Es werden nur diejenigen getroffen, die wirklich Schuld sind. Die meisten der Sanktionen richten sich also gegen konkrete Personen, denen man unterstellt, dass sie Einfluss auf politische Positionen haben. Denen tut man richtig weh, wenn sie Wirtschaftsinteressen haben und man sie daraufhin komplett aus dem Rennen nimmt. Sanktionen wie zum Beispiel die Erdgasimporte nach Deutschland zu stoppen, treffen den russischen Staatshaushalt, aber auch die Wirtschaft. Dann leidet zusätzlich die Bevölkerung, die eigentlich keine Schuld trägt. Allerdings ist auch zu bedenken: Würde ausschließlich Nord Stream 2 nicht in Betrieb genommen werden, würde Russland die Ukraine als Transitland für ihr Erdgas nutzen. Ein wirtschaftlicher Schaden würde also vor allem dann entstehen, wenn Deutschland gar nicht mehr aus Russland importiert – weder durch die Ukraine noch durch die Ostsee.

Welche Handlungen wären in diesem Fall denkbar?

Wenn es uns nur um die Regeln geht und darum zu sanktionieren, wenn sie nicht eingehalten werden, ist Deutschland über Nord Stream 2 mitten im Geschehen. Wenn wir die Krise lediglich deeskalieren wollen, ohne Rücksicht auf unsere Prinzipien zu nehmen, stellt sich wiederum auch die Frage, was Russland eigentlich will. Geht man davon aus, dass Russland wirklich im Frühjahr in die Ukraine einmarschieren will – was ja der amerikanische Geheimdienst zu behaupten scheint – wäre es wichtig, der Ukraine militärisch zu helfen und abzuschrecken.  

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Ob Putin dieses Risiko wirklich eingehen würde, ist umstritten. Was will Russland dann erreichen?

Die andere Möglichkeit ist, dass es Russland gar nicht um die Ukraine geht, sondern um die USA und Biden und darum, ein gleich behandelter Partner zu sein. Dass Russland zeigen will: Hört uns zu, wir sind wichtig, ihr könnt uns nicht einfach ignorieren – und wenn ihr das tut, machen wir so viele Probleme, bis ihr das bedauert. Dann gibt es solch ein Gespräch wie diese Woche zwischen Biden und Putin, bei dem Russland mit den USA auf Augenhöhe verhandelt. In so einem Fall ist es für Deutschland nicht möglich, viel zu tun. Russland will vor allem deutlich machen: Das Gebiet Belarus, Ukraine und Südkaukasus gehört zu unserer Einflusszone, da hat der Westen nichts verloren – selbst, wenn wir das Völkerrecht verletzen. Für Russland scheint es in der internationalen Politik wichtiger zu sein, gefürchtet als gemocht zu werden. Verfolgt man diese Logik, ergibt es aus russischer Sicht Sinn, mit der Armee aufzutreten. Russland scheint davon auszugehen, dass auch der Westen rein geostrategisch denkt, dass die ganze Debatte um Völkerrecht und Menschenrechte nur vorgeschoben und instrumentalisiert wird, und es den westlichen Staaten eigentlich um Großmachtpolitik und Einflusszonen geht. Diese Interpretation geht aus meiner Sicht zu weit. Aber wenn Russland das glaubt, sind Zeichen der Stärke wichtig – das erklärt viele Handlungsweisen.

Und die Ukraine selbst?

Die Idee, dass die Ukraine auch ein souveräner Staat ist und dass sie auch für sich entscheiden kann, geht hier völlig verloren. Die Ukraine hat sich selbst intern und freiwillig Richtung EU orientiert. Die öffentliche Meinung dort ist gekippt, nachdem Russland die Krim annektiert hat.

Es gibt verschiedene Vermutungen darüber, warum Putin ausgerechnet diesen Zeitpunkt gewählt hat, die Truppen zu stationieren. Welche Rolle spielt die jetzige Phase der Regierungsbildung in Deutschland dabei? Angela Merkel galt immerhin als Bundeskanzlerin, die den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gut im Blick hatte.

Ich kann Putin nicht in den Kopf sehen, aber ich glaube nicht, dass er Deutschland für so wichtig hält. Deutschland spielt eine Rolle, aber das bezieht sich eher auf Nord Stream 2. Gerade ist der Moment, in dem über die Pipeline entschieden wird, und in dem deutlich wird, dass mit der Einigung zwischen Merkel und Biden noch nicht alles geklärt ist. Hinzu kommt, dass der Winter auch bei uns jetzt kälter wird – wir merken, dass wir das russische Erdgas brauchen. Das ist ein günstiger Zeitpunkt, um Druck zu machen. Es gab ein ähnliches Szenario mit einem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze schon mal im Frühjahr dieses Jahres, kurz nachdem Biden Präsident wurde – deshalb glaube ich nicht, dass die Situation jetzt zwingend etwas mit der neuen Bundesregierung zu tun hat. Im Zweifelsfall ist dies eher ein neuer Anlauf mit Blick auf den amerikanischen Präsidenten.

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Für wie wahrscheinlich halten Sie denn überhaupt eine Invasion?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Russland eine Invasion riskiert, weil das wirklich schwer zu kalkulieren ist. Ich muss aber dazu sagen: Viele hätten sich auch nicht vorstellen können, dass Russland die Krim annektiert. Solche Entscheidungen werden manchmal einfach spontan getroffen, das ist der Punkt in einem autoritären Regime: Wenn ein kleiner Führungskreis sagt, wir wollen das, dann wird das auch gemacht. Trotzdem würde ich mich sehr wundern, wenn die russische Führung einen Krieg in Kauf nimmt, weil sie wirtschaftlich noch zu sehr mit dem Westen verflochten ist und beim Zahlungssystem oder beim Energiehandel ein sehr großes Risiko eingehen würde. Der russischen Führung ist bewusst, dass sie die Unterstützung ihrer Bevölkerung braucht – und die hat sie im Zweifel nicht mehr, wenn es eine richtig harte Wirtschaftskrise gibt. Die Situation ist sehr komplex, weil so viele verschiedene Faktoren einspielen, dass es auch für die Beteiligten nicht wirklich abschätzbar ist, was passiert. Alle tappen im Dunkeln. Und es stellt sich immer die Frage, was ein Land dem anderen unterstellt und wie konfliktbereit es selbst ist. Wir wissen aus vergleichbaren Fällen: Solche Konflikte können ewig andauern und sie können auch unerwartet eskalieren, wenn eine Seite sich Vorteile erhofft. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt es mehrere solcher Konflikte, etwa zwischen Armenien und Aserbaidschan, wo es vergangenes Jahr zum Krieg kam.

Das Gespräch führte Patricia Friedek.

 

Zur Person

Heiko Pleines leitet den Arbeitsbereich Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er beschäftigt sich mit Russland und der Ukraine und hat etwa zur Krim-Annexion geforscht.

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