Worpswede. Als die Scorpions 1978 ihr Live-Album „Tokyo Tapes“ veröffentlichten, war eine Ära abgeschlossen. Fünf Platten lang hatte der Gitarrist Ulrich Roth, der seinen Vornamen später zu Uli Jon internationalisierte, den Sound der bis heute erfolgreichsten deutschen Hardrock-Band geprägt. Er war der Musiker, der den Unterschied machte und der mit seiner damals schon herausragenden Technik selbst simple Rocksongs in höchste Sphären beförderte. Das konnte im Kontext einer Band, die immer deutlicher auf kommerzielle Höhenflüge Richtung Stadionrock einschwenkte, nicht weiter funktionieren, und so trennte man sich ohne viel böses Blut, wie alle Seiten bis heute glaubhaft beteuern.
Roth gründete Electric Sun und machte sich später ganz frei von festen Bandgefügen, die Scorpions wurden Multi-Millionäre. Der Gitarrist aber, der jetzt erstmals in die Music Hall kam, arbeitet weiter an seinem Ruf, einer der ganz großen Virtuosen des Hardrocks zu sein. Sein Name fällt nicht selten in einem Atemzug mit Saitenhelden wie Ritchie Blackmore oder Yngwie Malmsteen, und das völlig zu recht. Wie auch der Engländer und der Schwede besticht der Deutsche mit einer atemberaubenden Spielweise, komplexen Strukturen und einem individuellen Ton. Alle drei verbindet zudem, dass sie immer wieder klassische Themen zitieren und Kompositionen von Bach oder Mozart als Heavy Metal interpretieren. Roth hat als erster Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ auf einer von ihm entwickelten E-Gitarre mit erweitertem Tonumfang („Sky Guitar“) gespielt, manchmal bei seinen neoklassischen Ausflügen aber auch die Pathos-Schraube ein wenig überdreht.
Bei seinem Worpsweder Auftritt spielt diese Facette seines Schaffens allerdings keine Rolle, sondern er kehrt weitgehend zu eben jenem Programm zurück, mit dem er sich einst bei den Scorpions verabschiedete. Mit dem Klang der „Tokyo Tapes“ sei er seinerzeit nie wirklich zufrieden gewesen, sagt Roth. Dass dem Filigran-Techniker das Klangbild, das sein Tontechniker in die Music Hall prügelt, besser gefallen hätte, darf bezweifelt werden. Roth ist bekannt für laute Konzerte, und die Warnung davor am Eingang des Clubs, verbunden mit kostenlosen Ohrstöpseln, kommt nicht von ungefähr: Bei aller Liebe zum heftigen Rocken – hier werden Grenzen überschritten, die nichts mehr mit Geschmacksfragen zu tun haben. Wenn die hohen Frequenzen körperlich schmerzen, zahlreiche gestandene Rocker im sowieso recht überschaubaren Publikum sich die Ohren zuhalten oder nach wenigen Songs nach Hause gehen und man sich körperlich überwinden muss, seinem Gehör diesen Frontalausgriff auszusetzen, dann bleibt der Spaß auf der Strecke.
Technische Schwierigkeiten hätten wohl dazu geführt, dass der Soundcheck sehr knapp ausfiel, hieß es hinterher. Die Lösung des Problems in Lautstärke zu suchen, ist da allerdings auch nicht hilfreich. Im Gegenteil: So gehen viele Nuancen schlichtweg im gnadenlosen Lärm unter. Nur in den ruhigeren Phasen lässt sich erkennen, was für ein definiertes Klangbild Uli Jon Roth zu erzeugen in der Lage ist. Wie selbstverständlich spielt er seine Arpeggien, arbeitet sich leichthändig durch verdichtete Figuren und hebt die bekannten Songs aus den frühen 70er-Jahren auf neue Ebenen. Seine Interpretationen weichen im Klangbild zum Teil deutlich vom Original ab, während sich der Rest seiner Band um Authentizität bemüht.
Sie sind ebenso wie die äußerst blasse Vorband Reds'cool aus St. Petersburg, die schon vor einem halben Jahr an selber Stelle als Support bei Magnum nicht wirklich überzeugen konnte, Beiwerk. Der unumstrittene Star des Abends ist Uli Jon Roth, der sich auch als äußerst sympathisch erweist und noch lange nach seinem Auftritt mit Fans plaudert, unzählige Platten signiert und für Erinnerungsfotos posiert. Sein Spiel hat die Rockmusik ohne Frage verändert, aber auch er zollt seinem Idol Tribut: In der Zugabe spielt er zwei Stücke von Jimi Hendrix, bei denen er auch – nicht ganz so virtuos – den Gesang übernimmt.
Und auch seine legendäre Sky-Gitarre, ein doppelhalsiges Instrument mit zweimal sieben Saiten, das ihm ermöglicht, von akustischen nahtlos zu elektrischen Klängen zu wechseln, kommt zum Einsatz.
Das alles hätte ein wirklich glorreicher Genuss sein können, hätte sich der Tonmann dazu durchringen können, es nicht mit dermaßen infernalischer Brachialität zu servieren.