Wir haben Euch gewarnt, fliegt nicht durch unseren Himmel“, bringt Igor Girkin seine Erfolgsmeldung auf den Punkt. Am 17. Juli 2014, um 17.50 Uhr Moskauer Zeit, meldet der russische Geheimdienstoffizier, der sich selbst „Strelkow“ (Schütze) nennt, auf „vkontakte“, dem russischen Facebook: „Eben ist eine Antonow (AN-26) zerschellt, im Raion Torez, nahe der Schachtanlage ,Progress’. Der „Vogel“ sei in der Nähe eines Wohngebiets heruntergekommen, allerdings ohne Schäden anzurichten, berichtet Girkin. Kurze Zeit später sei ein zweites Flugzeug abgestürzt, „wahrscheinlich eine Suchoi (SU)“. Dazu postet Girkin zwei Videoaufnahmen auf deren Standbildern Rauchsäulen zu erkennen sind.
Es ist genau das Gebiet, auf das kurz zuvor die Trümmer einer Passagiermaschine niedergegangen waren: Flug MH 17 der der Malaysian Airlines von Amsterdam nach Kuala Lumpur mit 298 Menschen an Bord. Girkins Videos sind die ersten Bilder des Absturzes, die in Umlauf gebracht werden. Nachdem die prorussischen Separatisten, als deren Anführer Girkin firmiert, kurze Zeit später mitbekommen, dass die bei Torez abgestürzte Maschine eine Passagiermaschine war, verschwindet die Meldung aus dem Netz.
Damit beginnt diese Geschichte. Sie ist ein Wendepunkt in der Auseinandersetzung um die Ostukraine. Sie kennt viele Bilder, Tausende Ansichten, aber nur zwei Meinungen: Die Russen waren es, lautet die eine, die Ukrainer die andere. Die Geschichte ist eine Geschichte des Krieges zweier eng verbundener Nationen. Es ist auch ein Krieg der Bilder, von Beginn an.
Im November präsentiert das russische Staatsfernsehen eine Satellitenaufnahme, die den Abschuss der Passagiermaschine durch einen Kampfjet belegen soll. Die Bilder kursieren eine Weile im russischen Netz und werden schließlich als Fälschung enttarnt. Mit der Unfalluntersuchung des Fluges MH 17 wird schließlich die niederländische Behörde OVV betraut. Ein offizielles Endergebnis gibt es noch nicht.
Aber seit dem 31. Mai ist dieser Krieg der Bilder um einen Schauplatz reicher. Es ist der Tag, als die Rechercheplattform Bellingcat ein Dossier ins Netz stellt, das alle bisherigen Aussagen des Kreml widerlegen soll. Mithilfe von Fotoanalyse-Software will das Team zweifelsfrei nachgewiesen haben, dass die Satellitenfotos des Kreml falsch datiert und durch Foto-Software verändert wurden. Doch was Klarheit bringen soll, stiftet nur noch mehr Verwirrung. Nach knapp drei Wochen Debatte zwischen Computerexperten und Journalisten – auf Medienwebsites und in Blogs – ist nicht mehr zu leugnen, dass die Analyse von Bellingcat eben auch nicht frei von Ungereimtheiten ist.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Vier Tage nach dem Absturz von Flug MH 17 hatte der russische Generalstab erklärt, ein ukrainischer Kampfjet vom Typ SU-25 habe sich der malaysischen Boeing 777 genähert. Er sei auf die Maschine zugeflogen, das hätten die Aufzeichnungen der russischen Flugüberwachung ergeben. Außerdem forderte das russische Verteidigungsministerium Aufklärung über die Stationierung von Flugabwehrraketen des Typs Buk in Krasnoarmejsk, einem Ort, der sich zum Zeitpunkt des Absturzes unter ukrainischer Kontrolle befand. Das Verteidigungsministerium legte die Aufnahme einer Buk-Batterie vor, der eine Rakete fehlt. Die Aufnahme soll in Krasnoarmejsk gemacht worden sein.
Bellingcat aber erklärte, die eigene Analyse habe zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Satellitenfotos falsch datiert und mit Hilfe der Software Adobe Photoshop CS5 verändert wurden. Das russische Verteidigungsministerium habe der Weltöffentlichkeit manipulierte Satellitenfotos vorgelegt, um den Abschuss der Passagiermaschine durch eine ukrainische Buk-Rakete zu belegen. So hatte der Kreml eine Aufnahme präsentiert, die belegen sollte, dass sich eine ukrainische Buk-Batterie am 17. Juli 2014 nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort, einem Militärstützpunkt nördlich von Donezk befand, sondern andernorts zum Einsatz gekommen sei. Bellingcat wollte nun bewiesen haben, dass das Bild vor der Veröffentlichung bearbeitet und verändert wurde. Unterschiedliche Bildbereiche wiesen demnach unterschiedliche Kompressionsstufen auf. Wolken seien nachträglich hinzugefügt worden. Auch das Beweisfoto, mit dem die russische Regierung zeigen wollte, dass sich der ukrainische Raketenwerfer nahe dem Abschussort befand, sei manipuliert worden. Auch hier würden die Bildbereiche unterschiedliche Kompressionsstufen und Fehlerniveaus aufweisen. Der Vergleich mit anderen Satellitenaufnahmen vom 17. Juli 2014 zeige nach den Recherchen von Bellingcat außerdem, dass das vorgelegte Foto vor dem Tag des Abschusses entstanden sein müsse.
Bellingcat versteht sich selbst als „investigatives Recherche-Netzwerk“, das die Ergebnisse seiner Analysen auf seiner Website veröffentlicht. Gegründet wurde es vom früheren britischen Finanz- und Verwaltungsangestellten Eliot Higgins. Higgins, Jahrgang 1979 und damals arbeitsloser Blogger aus Leicester, hatte vor drei Jahren begonnen, Hunderte Online-Videos aus dem syrischen Bürgerkrieg zu durchforsten. Teils mit der Hilfe ortskundiger Internet-User ermittelte er Aufnahmeorte, erforschte Details zu den Waffen, die in den Filmchen sichtbar wurden. Er wollte beweisen, dass das syrische Regime Chemiewaffen und Streubomben einsetzte. Es gelang ihm, so die allgemeine Lesart. Renommierte Magazine wie der „New Yorker“ würdigten ihn dafür.
Renommierte Auszeichnung
In diesem Jahr wurde Bellingcat sogar mit dem „Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis“ ausgezeichnet. Die Jury rühmte Higgins‘ „kompetente und verantwortungsvolle Auswertung“ der Online-Quellen als die „beste journalistische Aufklärung auf dem Schlachtfeld moderner Propaganda- und Verunsicherungskriege.“
Noch am 1. Juni – dem Tag, als „Spiegel- Online“ und die meisten deutschen Medien die Bellingcat-Analyse zitierten – tauchte Kritik an den Schlüssen der Rechercheure auf. Allerdings kam sie nicht von prorussischen Bloggern, sondern von ausgewiesenen, neutralen Fachleuten. Sogar der US-Computerspezialist Neal Krawetz, der die Software programmiert hatte, die Bellingcat einsetzte, warf Bellingcat auf dem Nachrichtendienst Twitter harsch eine „fehlerhafte Analyse“ vor: „Markieren Sie sie als ‚Wie man eine Bildanalyse NICHT durchführen darf‘“.
Tatsächlich waren Higgins und sein Team dieses Mal von ihrer üblichen Vorgehensweise abgewichen, Videos und Fotos mithilfe weiterer Fotos und der Expertise Ortskundiger auszuwerten. Sie hatten selbst mit Computerprogrammen gearbeitet – und stehen nun in der Kritik, diese nicht ausreichend zu beherrschen. So habe es nichts zu bedeuten, dass die Foto-Bearbeitung mit Photoshop nachweisbar sei: Das könne auch am Einfügen des Erklärtextes in die Bilder oder schlicht an einer Größenveränderung liegen. Die unterschiedlichen Fehlerstufen und Komprimierungen, könnten auf Retuschierungen hinweisen – aber auch auf mehr Detailtiefe in einem Foto. Andere Blogger merkten an, dass von ihnen manipulierte Fotos von der Software gar nicht entlarvt wurden oder, dass der Vergleich eines Satellitenbildes mit dem auf Google Earth das Aufnahmedatum keineswegs widerlege, da auch Google alte Aufnahmen verwende.
All das belegt freilich genauso wenig die Echtheit der Kreml-Fotos. Aber dass etliche Medien – deren Journalisten in der Regel wohl von den Feinheiten solcher Software-Analysen überfordert gewesen sein dürften – Bellingcats Schlüsse als letzte Wahrheit verbreiteten, ging auch zu weit. „Spiegel-Online“ ließ sich diese selbstkritische Erkenntnis von einem Bild-Forensiker bestätigen und gestand ein: diese „professionelle Skepsis im Umgang mit der Quellenlage, das Hinterfragen der Quelle hätten wir stärker zum Ausdruck bringen sollen“.
Das ist die Lage, sie ist voller Widersprüche und Unsicherheiten. Und das Einzige, was wir heute sicher wissen, entstammt einem ersten Zwischenbericht der niederländischen Behörde OVV. Darin heißt es, dass „Objekte mit hoher Geschwindigkeit von außen in das Flugzeug eindrangen.“ Man macht keine Angaben zur Art dieser Objekte. Der Abschlussbericht soll im Sommer erscheinen.
Enthüllungsplattform Bellingcat
◼ Bellingcat ist eine Enthüllungsplattform, die 2014 nach einer Crowdfunding-Kampagne vom britischen Blogger Eliot Higgins gegründet wurde. Sie bringt Journalisten zusammen, die investigativ arbeiten. Das Recherche-Netzwerk wertet vor allem frei zugängliche Quellen wie Satellitenbilder und Informationen aus sozialen Medien, wie Videos und Fotos, aus. Higgins machte sich mit seinem 2012 gestarteten Brown Moses Blog einen Namen als Waffenexperte im Syrienkonflikt.