Es war spät, gegen halb zehn, als es an der Tür klingelte. So beginnt Kerstin Herrnkind ihr Buch „Den Drachen jagen“. „Den Drachen jagen“ bedeutet, Heroin auf Alufolie zu rauchen, wie Junkies sagen. Vor der Tür stehen zwei Polizeibeamte, die der Autorin die Nachricht vom Tod ihres Bruders in Berlin überbringen.
Die 57-jährige Journalistin ist in Bremen aufgewachsen, im Problemstadtteil Tenever. Sie absolvierte ihr Volontariat bei der Nordsee-Zeitung in Bremerhaven, wechselte zur Tageszeitung „taz“ nach Bremen und schreibt inzwischen seit mehr als 20 Jahren für den „Stern“. Ihr gerade erschienenes Buch handelt von ihrem Bruder Uwe. Er wurde 52 Jahre alt. Gestorben ist er an einem Mix aus Heroin, Alkohol und Medikamenten – einer von 1581 Menschen, die 2020 in Deutschland als sogenannte Drogentote registriert wurden.
Teil der eigenen Trauerarbeit
Kerstin Herrnkind macht keinen Hehl daraus, dass das Schreiben des Buches Teil ihrer eigenen Trauerarbeit gewesen ist. Trauerarbeit ist in der Regel etwas sehr Intimes, sehr Privates. Warum also ein Buch schreiben und sich damit an die Öffentlichkeit wenden? Was geht die Leser die Selbsttherapie einer Autorin an?
Kerstin Herrnkind wäre keine gute Journalistin, hätte sie sich diese Frage nicht auch gestellt. So hat sie nicht nur Erinnerungen aufgeschrieben, sondern recherchiert: bei Freunden und Freundinnen von Uwe, bei Drogenexperten, Medizinern, Sozialarbeitern und auch in der eigenen Familiengeschichte. Sie reicht zurück bis in das Bremen vor dem Ersten Weltkrieg, als Prügel wie selbstverständlich zum Erziehungsprogramm gehörten, Jungen und Männer zu „Stahl“ werden sollten.
Ihr Großvater kehrte traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, schlug Frau und Kinder, brachte den Lohn von der Bremer Neptun-Werft in der Kneipe „Storchennest“ durch. Ihre eigene Kindheit und Jugend in den 60er- und 70er-Jahren sei durch „strenge Hausmeister und Lehrer, verschollene oder vom Krieg traumatisierte Großväter und Großmütter“ geprägt gewesen.
Kindheit im "Fieslingsland"
Und Herrnkind fragt: „Übertrugen sich die Ängste der Eltern, ausgelöst durch eine Kindheit in Armut, auf die nächste Generation?“ Und mit Bezug zu ihrem an Drogen gestorbenen Bruder: „War es diese Kindheit im Fieslingsland, die betäubt werden musste, als sie erwachsen wurden?“ Die Autorin findet bei ihrer Spurensuche in ihrem und in Uwes Leben Antworten, die vielschichtig sind. Ihr Buch ist auch ein Beitrag zur aktuellen Debatte um die Legalisierung von Cannabis. Denn Cannabis sei – neben Alkohol – die Einstiegsdroge für jeden Junkie, wiederum werde nicht jeder Cannabis-Konsument zum Heroin-Abhängigen.
Wer verstehen will, warum junge Menschen wie Uwe in die Drogenszene abgleiten, für den sollte das Buch Pflichtlektüre sein. Es ist eine Mischung aus Roman (obwohl alle Handlungen authentisch sind), aus Geschichtsbuch und aus Reportage, gespickt mit diversen Fakten. Eine gelungene Trauerarbeit, die ohne jedwede Larmoyanz auskommt.