Dieses Buch hat das Zeug zum Standardwerk: Johan Schloemann hat eine kenntnisreiche und kurzweilige Geschichte der freien Rede geschrieben. Dabei hat der Kulturjournalist fraglos von seinem akademischen Vorleben profitiert – seine Dissertation in Klassischer Philologie beschäftigt sich mit der antiken griechischen Rhetorik. Mit dieser Wegmarke des Stegreif-Sprechens befasst er sich in den Auftaktkapiteln, die anhand historischer Beispiele das Für und Wider einer schriftlichen Unterstützung mündlicher Rede erörtern. Mit ähnlichem Fokus rekonstruiert er Improvisationstalent und Krückenbedarf von Cicero, neben Quintilian der bedeutendste unter den Rhetoren Roms.
Sehr spannend ist das Kapitel unter dem Leitwort „Öffne den schwachen Mund, löse die stammelnde Zunge“. Darin inspiziert Schloemann die christliche Rhetorik als „inspirierte Rede“, die von einem göttlichen Souffleur ausgeht, der Sprache und Sinngehalt spendiert, als währe das Pfingstwunder ewig. Tatsächlich wirken viele prophetische Reden, von denen die Überlieferung zeugt, wie eine Umsetzung jener gleichsam telepathisch gestifteten Transferpraxis von Gott zu Mensch, von der Paulus ausführlich berichtet.
Weniger um göttliche Eingebungen als um das Vergötzen von Apparaten geht es am Ende der stupenden Studie. Unter der Überschrift „Soundbites, Teleprompter und Twitter-Politik“ spürt Schloemann unserer fragmentierten Mediengegenwart nach und fragt nach der Notwendigkeit von Präsenz und Materialität in Reden neueren Typs. Die Conclusio beruhigt kaum: Das Bedürfnis nach freier Rede werde „unstillbar bleiben“. So lange wir es noch mit Menschen zu tun haben, nicht mit Künstlicher Intelligenz.
Weitere Informationen
„I have a dream“. Die Kunst der freien Rede.
Von Cicero bis Barack Obama. C.H. Beck,
München. 288 Seiten, 24 €.