"Tanja ist allein", mit diesem Satz endet das Tagebuch der jungen Tatjana Sawitschewa, die während der 872 Tage währenden Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht das Grauen um sie herum und den Tod jedes Mitgliedes ihrer großen Familie dokumentierte. Das junge Mädchen war zwei Jahre jünger als Anne Frank, als es im Sommer 1944, erblindet und gelähmt, mit 14 Jahren starb. Eine von 1,1 Millionen russischen Zivilisten, die dem Vernichtungskrieg des NS-Regimes zum Opfer fielen. Die Ausstellung "Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen: 27. Januar 1944: Ende der Blockade Leningrads", die bis Sonntag, 10. Februar, in der Kirche Unser Lieben Frauen gezeigt wird, ist dem Gedenken der Opfer gewidmet und dokumentiert ihr unvorstellbares Leiden.
Hitlers Ziel war es, die beiden kulturellen Zentren Russlands, Leningrad und Moskau, dem Erdboden gleichzumachen. Neben dem ständigen Artillerie-Beschuss war der Hunger die Kriegswaffe Nummer eins. Im belagerten Leningrad kam es zu Fällen von Kannibalismus. Dem ehemaligen Schriftführer der Bremischen Evangelischen Kirche, Louis-Ferdinand von Zobeltitz zu Folge ist eines der größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges immer noch zu wenig Teil der deutschen Erinnerungskultur an die Opfer des Nationalsozialismus. Er ist Mitglied der Friedensinitiative der Gemeinde Unser Lieben Frauen, Kooperationspartner des Vereins Deutsch-Russische-Friedens-Tage, der die Ausstellung initiiert hat. Jüngst widmete der deutsch-französische Kultursender Arte der Blockade eine Reihe von Dokumentationen. Ein Titel: "Leningrad Symphonie – eine Stadt kämpft um ihr Leben".
Leningrad-Konzert in der Kirche
Und genau das wird auch in der Ausstellung dokumentiert: Am 10. Februar wird ein großes Leningrad-Konzert in der Kirche veranstaltet. Als Stimme von Leningrad galt die Lyrikerin und Radiomoderatorin Olga Bergholz. In der Ausstellung sind ihre Worte zu lesen: "O Jahr der Härte und Unbeugsamkeit, auf Tod und Leben kämpfen wir. Jahr Leningrads, die Stadt erfriert." Das Radio und die Kultur hätten den Überlebenswillen der Bevölkerung gestärkt, so von Zobeltitz: "Durch Kultur ist ihre widerständige Würde erhalten geblieben." Egal, wer im Rundfunk seine Stimme erhob, auch Autoren wie Anna Achmatowa oder die Musiker des Leningrader Radiosinfonie-Orchesters, sie alle seien ausgemergelt gewesen und hätten doch Widerstand geleistet, betont Wolfgang Müller. Quasi zur Fanfare des Widerstands, die auch über Lautsprecher in der ganzen Stadt ausgestrahlt wurde, geriet die Aufführung von Dmitri Schostakowitsch' 7. Sinfonie. In der "Leningrader" verarbeitete er die Schrecken der Belagerung.
Müller, der seit 20 Jahren mit einer aus Kiew stammenden Ukrainerin verheiratet ist, hat ein breites Bremer Bündnis wider das Vergessen auf die Beine gestellt. So ließ der Musiker Michael Bömers, einstmals Teilinhaber der traditionsreichen Bremer Weinhandelsfirma Reidemeister & Ulrichs, seine guten Kontakte in die Bremer Musikszene spielen. Am breit gefächerten Rahmenprogramm sind Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Russland, der Ukraine, aus Tadschikistan und Usbekistan beteiligt. "Der Zuspruch war überwältigend", so Müller.