Frau Wöhr, die Zahl der Versammlungen von Kritikern der Corona-Politik nimmt aktuell immer weiter zu. Wer demonstriert dort?
Maria Wöhr: Wir würden in diesem Zusammenhang nicht von Kritikern der Corona-Politik sprechen, sondern eher von Menschen, die die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie lediglich als Anlass nehmen für ihre Proteste. Denn es zeigt sich immer wieder, dass es den Teilnehmenden der Demonstrationen um grundsätzlichere Dinge geht. Während „Friede, Freiheit, keine Diktatur“ gerufen wird, träumen viele tatsächlich selbst von autoritären, diktatorischen Zuständen, etwa auf Plakaten oder in Telegram-Kanälen.
Wie setzt sich die Szene in Niedersachsen zusammen?
Diese Szene setzt sich aus unterschiedlichen Personenkreisen zusammen, unter anderem aus Esoterikern, Impfgegnern, Reichsbürgern und organisierten Rechtsextremen. Auch wenn sich immer wieder neue Vernetzungsstrukturen herausbilden, wie derzeit mit den „Freien Niedersachsen“, vereint sie der Glauben an Verschwörungserzählungen oder mindestens deren Akzeptanz. Während es etliche Gruppen und Kanäle gibt, über die sich die Szene vernetzt und ihre Inhalte verbreitet, muss beachtet werden, dass Telegram-Gruppen lokaler Ableger immer eine hohe Zahl von Mitgliedern haben, die nicht in der Region leben. Diese Menschen sind oft in allen möglichen Gruppen vertreten, wodurch zum Teil eine hohe Mitgliederzahl erreicht wird.
Was steckt hinter dem Netzwerk "Freie Niedersachsen", das oftmals für die sogenannten Spaziergänge verantwortlich ist und dafür wirbt?
Die „Freien Niedersachsen“ orientieren sich an der rechtsextremen Gruppierung „Freie Sachsen“, die unter anderem aus NPDlern und anderen Neonazis besteht. Die Vernetzung findet hauptsächlich über Telegram-Gruppen und -kanäle statt. Hierbei gibt es verschiedene lokale Ableger, wie zum Beispiel „Freie Oldenburger“. Neben den Ankündigungen der „Spaziergänge“ werden dort auch regelmäßig Berichte von den Veranstaltungen gepostet, teils mit übertriebenen Teilnahmezahlen, um sich selbst die eigene Wirkmächtigkeit zu bestätigen. Wer sich genau hinter den einzelnen Kanälen verbirgt, ist nicht immer nachvollziehbar, die Organisatoren setzen sich lokal unterschiedlich zusammen. Zunehmend lässt sich jedoch eine Beteiligung der (extremen) Rechten beobachten, die sich vermehrt auch in Organisierungsprozesse und strategische Diskussionen einbringt. An manchen Orten sind Rechtsextreme sogar Organisatoren der Demonstrationen, wie zum Beispiel in Verden. Abgrenzungen oder Ausschlüsse von Rechtsextremen sind hingegen nicht zu beobachten.
Anstatt weniger großer Kundgebungen gibt es jetzt vermehrt kleinere dieser Spaziergänge. Woher kommt der Strategiewechsel?
Die „Spaziergänge“ inszenieren sich nach außen hin bürgerlich, womit die Anschlussfähigkeit vor Ort erhöht werden soll. Das ist aber reine Taktik. Indem solche Aktionen nun als „Spaziergänge“ betitelt werden, versuchen die Teilnehmenden, sich als spontaner, angeblich unpolitischer Zusammenschluss zu inszenieren. Damit sollen auch geltende Auflagen für Versammlungen umgangen werden, zum Beispiel die Maskenpflicht. Die Regionalisierung, die sich aktuell beobachten lässt, macht es außerdem einfacher, an den Aktionen der Szene teilzunehmen, weil dafür nicht extra in größere Städte gefahren werden muss. Dazu kommt, dass Verschwörungsgläubige gerade in kleineren Orten weniger Störungen durch antifaschistischen Gegenprotest zu befürchten haben, der vor Ort durchaus eine demotivierende Wirkung auf die Corona-Leugner haben kann.
Vonseiten der Mobilen Beratung heißt es, dass oftmals „antisemitische Bilder und Verschwörungsmythen“ als Bindeglied für das durchaus gemischte Spektrum bei den Versammlungen dienen. Welche sind das?
Verschwörungsideologien funktionieren so, dass sie einzelne Personen oder Gruppen als Schuldige für unverstandene gesellschaftliche Vorgänge ausmachen. Dieses Muster findet sich in zahlreichen Erzählungen des Spektrums, etwa wenn Bill Gates als Strippenzieher hinter der Pandemie vermutet und Impfungen als Kontrollinstrument dargestellt werden. Ebenfalls verbreitet sind Verschwörungsmythen vom „Great Reset“. Darin wird ein angeblicher Plan von Eliten herbeifantasiert, die Corona als Vorwand nutzen würden, um eine autoritäre Neuordnung ("New World Order") der Welt herbeizuführen, die wahlweise als kommunistisch oder neoliberal bezeichnet wird.
Und wie hängen solche Ideologien mit Antisemitismus zusammen?
Solche Verschwörungserzählungen knüpfen sehr stark an antisemitische Denkmuster an, denn die Vorstellung einer mächtigen und bösartigen Elite ist ein wichtiger Bestandteil des modernen Antisemitismus. Dieser Elite wird unterstellt, hinter den Kulissen die Geschicke der Welt zu lenken und hinter dem Kommunismus genauso wie hinter dem Kapitalismus zu stehen. Von da aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, Jüdinnen und Juden als die „wahren“ Strippenzieher zu benennen. Antisemitisch ist außerdem die Inszenierung der Corona-Leugner als Opfer, da sie darüber funktioniert, dass man sich mit den im Nationalsozialismus verfolgten Jüdinnen und Juden gleichsetzt und damit den Holocaust relativiert.
Sie schreiben auch, dass das Spektrum „Symbole und Erkennungszeichen nutzt, mit denen Botschaften verschlüsselt kommuniziert“ werden. Wie sind diese Codes zu erkennen und was bedeuten sie?
Symbole können sowohl Botschaften nach außen senden als auch nach innen den Zusammenhalt stärken. Anhänger der Q-Anon-Verschwörungserzählung nutzen etwa ein weißes Kaninchen oder ein Q als Erkennungszeichen. Verbreitet sind außerdem die Farben schwarz-weiß-rot, etwa als Fahnen oder Textilien. Neben Schlagworten wie „Souveränität“ und „Selbstbestimmung“ verweisen sie auf Reichsbürgerideologie, die in der Szene ebenfalls weit verbreitet ist. Unter Antisemiten haben sich darüber hinaus bestimmte Codes etabliert, um nicht mehr offen von „den Juden“ sprechen zu müssen. So werden zum Beispiel die Namen einzelner Jüdinnen und Juden wie „Rothschild“ oder „Soros“ als Code genutzt oder mit Schlagworten wie „Hochfinanz“ und „Ostküste“ ein angeblicher jüdischer Einfluss auf die Finanzwelt behauptet, welche wiederum an der „New World Order“ arbeite. Wer solche Codes benutzt, verbreitet antisemitische und verschwörungsideologische Welterklärungen.
Auch im Landkreis Diepholz finden immer häufiger Versammlungen von Kritikern der Corona-Politik statt. Wie setzt sich die Szene im Landkreis zusammen?
Aktuell erhält die Szene auch im Landkreis Diepholz großen Zulauf. Seit Dezember wird regelmäßig an zahlreichen Orten im Landkreis zu sogenannten „Spaziergängen“ und Kerzenaktionen aufgerufen. Diese werden auf Telegram über die „Freien Niedersachsen“ beworben und finden unter anderem in Diepholz, Stuhr, Syke, Bassum, Weyhe, Bruchhausen-Vilsen sowie weiteren Orten im Landkreis statt. Eine Vernetzung der Corona-Leugner im Landkreis ist bereits seit 2020 feststellbar und diese Netzwerke werden auch immer noch zur Mobilisierung genutzt. In der Vergangenheit fanden im Landkreis unter anderem Flyer-Aktionen der „Freiheitsboten“ statt. In Syke gab es bereits Anfang 2021 Spaziergänge, die unter anderem in Neonazi- und Reichsbürger-Chatgruppen beworben wurden. In den Chats und an den Aktionen nahmen damals auch lokale AfD-Mitglieder und Rechtsextreme teil. In Weyhe fand im letzten März außerdem ein von der Polizei aufgelöstes Reichsbürgertreffen statt. Seit der Kommunalwahl im September sitzt mit Oliver Kunstmann ein Vertreter der Partei Die Basis im Syker Stadtrat. Die bundesweit aktive Partei propagiert verschwörungsideologische Positionen und prominente Akteure geraten regelmäßig wegen antisemitischer Aussagen in die Kritik.
In Stuhr wurde vor wenigen Wochen eine Polizistin bei einem Einsatz rund um einen dieser Spaziergänge leicht verletzt. Haben sich die Versammlungen radikalisiert?
Eine Radikalisierung des Spektrums ist seit Längerem feststellbar, auch im Landkreis Diepholz. So gab es bereits im April 2021 am Rande des sogenannten „Lichterspaziergangs“ in Syke einen gewalttätigen Angriff einer Gruppe von mutmaßlich der rechtsextremen Szene zuzuordnenden Personen, die zwei Gegendemonstranten verletzten. Aktuell häufen sich auf Demonstrationen im Nordwesten Bedrohungen und Angriffe auf Journalisten oder Gegendemonstranten, aber auch Polizisten. Überraschend kommt diese Gewalt nicht, denn Verschwörungsideologien und Antisemitismus wohnt immer ein Gewaltpotenzial inne. Durch die aktuellen Mobilisierungen und den teilweise laschen Umgang der Strafverfolgungsbehörden fühlt sich die Szene bestärkt, das wirkt dann wie ein Katalysator.
Welche Vorfälle in der Region sind noch bekannt?
In der Umgebung kam es unter anderem Ende November bei einer Demonstration von Corona-Leugnern in Wildeshausen zu mehreren gewaltsamen Angriffen auf Teilnehmende des Gegenprotests. In Hude musste Anfang Dezember ein Journalist die Berichterstattung zu einer Versammlung nach einem Angriff auf ihn abbrechen. Im Dezember erhielt ein Impfhelfer in Hude Morddrohungen. Unter anderem in Bruchhausen-Vilsen tauchten im Dezember zahlreiche holocaustrelativierende Aufkleber auf. In Verden wurden im Januar drei Polizeibeamte verletzt, nachdem zwei Teilnehmer einer Versammlung mit einer Fahnenstange einen Polizisten angriffen. Im Januar wurde das Gebäude des "Delmenhorster Kreisblatts" mit Hakenkreuzen sowie den Worten „Propaganda“ und „Holocaust“ beschmiert. Mehrere Monate zuvor verübte ein Täter mit Verbindungen in die Corona-Leugner-Szene einen Anschlag auf das Delmenhorster Rathaus.
Was können Menschen tun, wenn sie im Alltag mit Antisemitismus und Verschwörungstheorien konfrontiert werden?
Beobachtet man bei Menschen aus dem eigenen Umfeld eine Hinwendung zu verschwörungsideologischen Denkweisen, sollte das nicht einfach ignoriert werden. Sinnvoller als endlose Diskussionen über Fakten kann hier die Frage sein, warum es für die Person gerade attraktiv erscheint, sich solchen Denkmustern zuzuwenden. Oft stehen dahinter persönliche Krisen und Lebenslagen, die sich seit Corona für viele Menschen zusätzlich verschlechtert haben. Hier ist Empathie und Unterstützung möglich. Die Wahrung einer Beziehungsebene kann sehr hilfreich sein, das bedeutet aber nicht, auf jeglichen Widerspruch zu verzichten oder menschenfeindliche Haltungen zu akzeptieren. Bei solchen Aussagen sollte deutlich gemacht werden, dass eine Grenze überschritten ist und gerade wenn noch weitere Menschen zuhören, ist es wichtig, sich klar gegen menschenfeindliches Gedankengut zu positionieren.
Worauf sollte man dabei noch achten?
Menschen aus dem Umfeld Verschwörungsgläubiger sollten auch ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen im Blick behalten, hilfreich kann es sein, sich mit anderen auszutauschen und gegebenenfalls Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Beobachtet man Bedrohungen und Angriffe auf Menschen, die zum Feindbild der Verschwörungsgläubigen gehören, ist es wichtig, Betroffenen Unterstützung anzubieten und sie mit der Situation nicht alleine zu lassen. Eine solidarische Positionierung der Zivilgesellschaft kann solchen Einschüchterungsversuchen etwas entgegensetzen. Erfreulich ist, dass sich aktuell in vielen Orten Engagierte aus der Zivilgesellschaft zusammenschließen und sich mit vielfältigen Aktionen gegen Verschwörungsideologien wenden. Solche Kundgebungen fanden auch im Landkreis Diepholz statt und sind eine gute Möglichkeit, vor Ort aktiv zu werden und sich zu vernetzen.
An wen können sich Betroffene wenden?
Die Mobile Beratung unterstützt bei unterschiedlichen Herausforderungen im Umgang mit Verschwörungsideologien und ihren Anhängern. So kann es für Menschen aus dem Umfeld von Verschwörungsgläubigen entlastend sein, sich mit jemandem darüber auszutauschen, wie mit der Situation umgegangen werden kann. Wir beraten aber auch zivilgesellschaftliche Engagierte, die aktiv gegen Verschwörungsideologien und Antisemitismus werden möchten. Auch Lehrer oder Fachkräfte, die beruflich mit dem Thema konfrontiert sind, können sich an uns wenden. Bei Bedrohungen und Angriffen von Corona-Leugnern kann man sich an die Betroffenenberatung Niedersachsen wenden, die unkompliziert und parteilich unterstützt. Außerdem gibt es mit "Distance – Ausstieg Rechts" ein Angebot in der Region, das auch Menschen unterstützt, die sich von der Verschwörungsszene wieder abwenden möchten.
Das Interview führte Eike Wienbarg.