In Bremen weiß man, wie es ist, wenn man bei den Pisa-Studien schlecht abschneidet. Für Schweden ist dies eine eher neue Erfahrung. Längst schon haben zahlreiche Probleme das ehemalige Vorzeigeland eingeholt. Nun scheint auch die einst so fortschrittliche Bildungspolitik Risse zu bekommen, denn Schweden galt lange als Vorreiter der Digitalisierung. Während hierzulande noch Tafel, Schulbuch und Schreibheft an der Tagesordnung waren, setzten die Skandinavier längst schon auf Tablets und Laptops
Aktuelle Studien zeigen, dass die Lernkompetenz mit dem Siegeszug der digitalen Unterrichtsmedien rasant zurückgeht. Kinder, die nicht mehr richtig lernen, wie man mit einem Stift schreibt, haben motorische und in der Folge häufig auch kognitive Defizite, die sich später nur schwer korrigieren lassen – wenn überhaupt. Vor allem aber lernen sie nicht mehr, fehlerfrei zu schreiben, wenn ihnen Korrekturprogramme stets die vermeintlich richtigen Schreibweisen vorgeben.
Man wird digitale Medien nicht aus dem Schulalltag heraushalten können – und das kann auch nicht das Ziel einer halbwegs zeitgemäßen Bildungspolitik sein. Kinder und Jugendliche müssen heute zwangsläufig in der Schule Medienkompetenz erwerben, um fürs spätere Leben und Arbeiten das nötige Rüstzeug zu erhalten. Ein Schritt zurück in die Kreidezeit darf keine totale Absage an den Fortschritt bedeuten.
Handyverbot an Schulen
Die Mitte-Rechts-Minderheitsregierung in Stockholm – gestützt von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten – will das Rad der Geschichte ein bisschen zurückdrehen und kündigt eine Offensive für das aus der Mode gekommene Schulbuch an: Rund 60 Millionen Euro jährlich will man sich das kosten lassen. Und obendrein soll es bis zur neunten Klasse ein absolutes Handyverbot an Schulen geben – im Unterricht wie in den Pausen. Mal davon abgesehen, dass es schwierig bis unmöglich sein dürfte, das durchzusetzen, wirkt dies wie der verzweifelte Versuch, sich ein ewiges Bullerbü herbeifantasieren zu wollen. Ein längst vergangenes analoges Idyll, das es so nicht mehr geben kann. Statt Verbote ein bisschen mehr Villa Kunterbunt mit einem Mix aus vielen Möglichkeiten, wäre ein konstruktiverer Ansatz.
Aber all die Bemühungen, das Schwinden der Lernkompetenz zumindest zu verlangsamen, treffen dort wie hierzulande auf eine Generation, die längst völlig anders geprägt ist. Lange Vorlesegeschichten sind schnellen Reizen auf dem Bildschirm gewichen. Kurze Clips, flinke Statuschecks, die komplexe Nachricht in 140 Zeichen – wie soll man lernen, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren? Und je ausgereifter die digitalen Angebote werden, desto individueller sind sie. Dass sie mit der Realität oft wenig zu tun haben, wird kaum hinterfragt. Die Kinder von heute vereinsamen in den virtuellen Tiefen.
Sich dagegen zu wehren, verlangt den Betroffenen und ihren Eltern viel ab, für viele zu viel. Der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Herteux schreibt in der „Frankfurter Rundschau“ vom Phänomen des „Verhaltenskapitalismus“. Dabei werde „menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen (...). Der Schlüssel zum Verständnis dieser neuen Form des Kapitalismus ist die Betrachtung von menschlichem Verhalten als nutzbarem Rohstoff. Der Mensch wird praktisch ,abgeerntet’ und aus der Ernte werden neue Produkte und Dienstleistungen erzeugt.“
Dieses „Abernten“ beginnt immer früher. Die Frage ist: Schafft es die Bildungspolitik, Schüler so weit zu kritischen Medienkonsumenten zu erziehen, dass sie sich zumindest Auszeiten nehmen können und diese sinnstiftend ausfüllen können? Und kann sie analoge Inhalte bieten, die nicht als Drangsalierung, sondern als attraktive Alternative daherkommen? Die Älteren werden sich erinnern, dass es die sehr wohl gibt. Nur die Wege dorthin zurück werden mit jedem digitalen Fortschritt weiter. Es braucht nicht nur andere Unterrichtsmaterialien, es braucht vor allem auch den politischen Willen, der entfesselten Digitalisierung entgegenzutreten. Um bei Herteux zu bleiben: Wir müssen mehr Verhaltensantikapitalismus wagen. Das scheint nicht nur in Schweden utopisch, aber das waren die Geschichten von Pippi Langstrumpf auch. Vielleicht schlummert ja irgendwo noch etwas vom anarchischen Geist dieser gänzlich analogen Heldin.