Santo Andre. Bei der Vorbereitung auf das Portugal-Spiel hat Joachim Löw auch verstärkt Standards trainieren lassen - eine sonst eher vernachlässigte Diszplin. Das Zustandekommen der Einheit war dabei sehr kreativ.
Beim Training am Donnerstag hatte Joachim Löw Zettel und Stifte an seine Spieler verteilen lassen. Danach steckten die in zwei Gruppen aufgeteilten Nationalspieler auf dem Trainingsplatz ihre Köpfe zusammen. Man redete, machte sich Notizen und ließ dem Chef das Papier nach einiger Zeit wieder zukommen. Erst dann begann die eigentliche Übungseinheit.
Der Bundestrainer hatte sich an diesem Tag etwas Besonderes einfallen lassen. Es ging um ein Thema, von dem es heißt, dass Löw es eigentlich nicht so besonders wichtig finde. Es ging um Standardsituationen. Löw hatte die Mannschaft bei besagter Trainingseinheit aufgefordert, Varianten für ruhende Bälle aufzuschreiben. Anschließend, als alle Reporter und mögliche Spione von deutschen Gruppengegnern das Gelände verlassen hatten, ließ Löw die Vorschläge durchspielen.
Löw sagt: „Wir haben im Trainingslager in Südtirol Standards gemacht, und wir machen sie auch hier. Wir haben uns diesmal intensiv damit beschäftigt.“ Es ist womöglich keine schlechte Idee, den Stellenwert von Aktionen nach ruhenden Bällen aufzuwerten. Statistiker haben herausgefunden, dass Deutschland seit der Europameisterschaft 2008, als Michael Ballack im zähen Spiel gegen Österreich den Ball aus 25 Metern zum 1:0-Sieg ins Tor wuchtete, keinen einzigen Treffer mehr nach einem Freistoß erzielt hat. Mit Toren nach Eckbällen sah es lange Zeit nicht besser aus.
„ Ich bin ein großer Freund davon, Dinge einzustudieren“, sagt Löw, „aber man kann bei der Nationalmannschaft nicht immer wie ein Vereinstrainer alles einstudieren.“ In der Vergangenheit hieß das für die Trainingsplangestaltung der Nationalmannschaft dann, dass auf Pass- und Laufwege sowie auf taktische Verhaltensweisen wie Pressen und Verschieben mehr Wert gelegt wurde als auf die Standards. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass Freistöße und Eckbälle für Löw zu einem Fußballspiel irgendwie nur dazugehören. Aber zum Einüben fehlten dann doch oft Zeit, Überzeugung und Begeisterung.
Dabei hat die Erfahrung gelehrt, dass Standards eine gefährliche Waffe sein können. Gerade in Spielen, in denen sich die Teams auf Augenhöhe begegnen und sich aus dem Spielverlauf heraus eher wenige Torchancen ergeben. Wie war das denn bei Bayerns 0:4 gegen Real vor ein paar Wochen? Das 0:1 köpfte Sergio Ramos – nach einer Ecke. Das 0:2 köpfte wieder Ramos - wieder nach einer Ecke. Oder im Champions-League-Finale: Dort konnte Real den Ball trotz Überlegenheit einfach nicht im Tor von Atletico unterbringen. Dann gab es in der Nachspielzeit eine Ecke, es gab einen Kopfball von Ramos und die Verlängerung. Der Rest ist Geschichte.
Ecke, Tor. Mit diesem Gefühl macht sich die deutsche Mannschaft so langsam wieder vertraut. Heiko Westermann sorgte auf der USA-Reise beim 3:4 gegen den Gastgeber für den Anfang. In den beiden wichtigsten Testspielen des vergangenen Jahres gegen Italien (1:1) und England (1:0) ließen Mats Hummels und Per Mertesacker zwei Tore nach Eckbällen folgen. Eckballschütze war jeweils Toni Kroos.
Noch immer erzielt die deutsche Mannschaft die weitaus meisten Tore aus dem Spiel heraus. Nach schneller Balleroberung. Nach schöner Kombination über drei, vier Stationen, meist schnell und flach, häufig durch die Mitte. Das ist bei Fußballern wie Mario Götze, Andre Schürrle, Mesut Özil, Thomas Müller und Miroslav Klose auch kein Wunder. Aber die DFB-Elf besteht ja nicht nur aus sogenannten One-Touch-Experten. Am Ende zählt ein Mertesacker-Tor nach einer Ecke oder ein gegrätschter Hummels-Abstauber nach einer Freistoßhereingabe genauso viel wie jedes „Tor des Monats“.