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Geschichte einer gelungenen Integration: Jay Barry kam mit 15 Jahren nach Bremen Aus Gambia nach Habenhausen

Habenhausen. Trockener Mund. Aufgeplatzte Lippen.Vier Jahre später. Jay sitzt am runden Küchentisch in einem Reihenhaus in Habenhausen.
12.10.2015, 00:00 Uhr
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Von Tobias Meyer

Trockener Mund. Aufgeplatzte Lippen. Völlige Orientierungslosigkeit. Als Jay Barry vor der Tür der Zentralen Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge (ZAST) steht, ist sie mit ihren Kräften am Ende. Es ist der 7. September 2011, und hinter ihr liegt eine lange Reise, mit dem Schiff und dem Auto, stundenlang, von Gambia bis nach Bremen, ohne Trinkwasser. Sie ist 15 Jahre alt, sie hat nie eine Schule besucht. Sie wusste nicht einmal, dass das Land, in dem sie sich befindet, überhaupt existiert. Und hier sollte nun ihr neues Leben anfangen.

Vier Jahre später. Jay sitzt am runden Küchentisch in einem Reihenhaus in Habenhausen. Sie hat die Hände auf der Holzplatte zusammengelegt, ihre Lider zittern leicht vor Konzentration, zwischendurch schließt sie die Augen. Wieder einer dieser Momente, in denen sie von ihrer Flucht erzählen muss. Ein Thema, das in diesen Tagen omnipräsent ist, täglich flattern die Bilder von Geflohenen auf Booten, in Turnhallen, in LKW über den Fernsehschirm. Ein Thema, das berührt, und das Menschen Angst macht. Wie sollen wir all die Flüchtlinge integrieren?, fragen sie unter anderem. Vielleicht so wie Jay. Bei ihr hat es geklappt.

Dabei war der Beginn nicht einfach. Jay, deren Eltern früh gestorben sind und die in Gambia bei ihrer Großmutter groß wurde, hat ihr Leben lang auf dem Feld gearbeitet. Sie kannte keine Uhr, sie kannte keine Buchstaben. Und jetzt, im September 2011, öffnet ihr jemand von der ZAST die Tür, weist ihr ein Zimmer zu und drückt ihr einen Zettel mit den Essenszeiten in die Hand. Jay spricht ein wenig englisch, das hat sie von ihrer Freundin gelernt. Aber lesen konnte sie nicht, und schon gar nicht deutsch – also weiß sie nichts mit dem Zettel anzufangen. Sie bleibt in ihrem Zimmer und isst und trinkt drei weitere Tage nichts.

Dann wird sie ins Mädchenhaus geschickt. Dort kann sie bleiben, als einzige Afrikanerin unter vielen anderen. Die Betreuer empfangen sie herzlich, und sie fördern das junge Mädchen: Schicken sie in einen Sprachkurs der Volkshochschule, versorgen sie gesundheitlich, besorgen ihr einen Platz an einer Schule. Jay, die in ihrer Heimat mit 15 Jahren beschnitten und verheiratet worden wäre, hätte sie ihre Oma nicht auf die Reise geschickt; diese Jay sitzt jetzt zum ersten Mal in einer Klasse und lernt lesen und schreiben.

Weil sie unbedingt Sport machen will, meldet sie sich beim Bremer Leichtathletikteam an. Dort ist zu diesem Zeitpunkt die Tochter von Jugendfarmleiterin Susanne Molis Trainerin. Sie ist es, die Jay und ihre Eltern zusammenbringt – und eine Aufnahme vorschlägt. „Nach dem Auszug ist es hier ganz schön ruhig geworden“, sagt Peter Molis. „Da kam uns etwas frischer Wind ganz gelegen.“ Sie besprechen die Angelegenheit mit ihren Kindern, und erhalten dann über die gemeinnützige Einrichtung Pflegekinder in Bremen (PIB) Unterstützung bei der Aufnahme.

Seit dem 21. April 2012 wohnt Jay nun bei ihren Pflegeeltern. Dass sie jetzt zu dritt am Tisch sitzen und gemeinsam miteinander sprechen und lachen können, ist keine Selbstverständlichkeit. „Vor allem am Anfang merkte man den Unterschied zwischen den Kulturen sehr deutlich“, sagt Peter Molis. Denn Jay ist es zunächst nicht gewohnt, dass Kinder sprechen dürfen, wenn Erwachsene mit am Tisch sitzen – vor allem nicht als Mädchen. „Sie ist unseren Blicken ausgewichen und hat immer zu allem Ja gesagt“, erinnert sich Susanne Molis. „Da war es schwer herauszufinden, was sie wirklich fühlt.“

Überhaupt: Da Jay schon sozialisiert war und dazu auch noch mit anderen Werten, mussten sich Molis erst einmal einen Zugang verschaffen. „Das ist gar nicht so einfach“, sagt Peter Molis lachend. „Schließlich kam zu alledem ja auch noch die Pubertät dazu!“ Manchmal spricht Jay in dieser Zeit kaum mit ihnen, wirkt abwesend. „Wie in einem schwarzen Loch“, sagt Molis, „da standen wir manchmal wie der Ochs vorm Berg.“ Den Zugang hat er vor allem über den Fußball zu ihr gefunden. „Sie ist ein großer Bayern-München-Fan.“ Beim Verein Refugio erhält sie zudem psychologische Hilfe. Auch für Jay bedeutet die neue Situation zunächst eine große Umstellung. „Mir fällt es manchmal immer noch schwer, ‚Nein‘ zu sagen“, sagt die 19-Jährige. Insgesamt sei sie aber schon viel selbstbewusster geworden, finden ihre Pflegeeltern. „Sie macht ihren Weg, und das finden wir toll.“

Dieser Weg bedeutet vor allem erst einmal eines: Abschlüsse schaffen. Nach dreieinhalb Jahren hat sie durch ihren Ehrgeiz bereits die erweiterte Berufsbildungsreife erlangt. Ihr Fleiß und ihr „besonderer Integrationswille“ haben ihr nach dem zunächst abgelehnten Asylantrag nun auch eine unbefristete Niederlassungserlaubnis eingebracht. Mittlerweile macht sie eine Ausbildung zur Verkäuferin mit Option auf einen Abschluss als Einzelhandelskauffrau in einem Habenhauser Bioladen. Wenn sie das schafft, könnte sie sich auch ein anschließendes Studium vorstellen. „Mit 27 hätte sie gerne ein Haus, ein Auto und zwei Kinder“, sagt Peter Molis und Jay lacht. „Man muss sich Ziele setzen.“ Nebenbei unterstützt sie andere Flüchtlingsmädchen, begleitet sie beispielsweise zum Frauenarzt und gibt ihr Wissen über formale Vorgaben weiter.

Eine Sache macht Jay jedoch traurig. „Wenn ich die Fremdenfeindlichkeit der Menschen im Fernsehen sehe, werde ich richtig wütend“, sagt die 19-Jährige. „Das Deutschland, das ich kennengelernt habe, ist nicht so.“ Das Deutschland, das sie kennt, ist ein herzliches. Eines, das sie aufgenommen hat, als sie orientierungslos an die Tür geklopft hat. „Ich wünsche mir, dass andere Flüchtlinge das auch erfahren dürfen.“

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