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Inklusion Eine Assistenzkraft für viele Kinder

Bildungs- und Sozialressort wollen ein neues Modell für die Schul-Assistenzen einführen. Damit sollen mehr Kinder mit Beeinträchtigung als bisher von den knappen Personalressourcen profitieren.
10.08.2022, 05:00 Uhr
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Eine Assistenzkraft für viele Kinder
Von Sara Sundermann

Bremen will sein System für Schul-Assistenzen neu aufstellen. Kinder mit Beeinträchtigung haben teils ein Recht auf eine Assistenz, also auf eine pädagogisch ausgebildete Person, die sie in der Schule begleitet. Das heißt, eine Erwachsene sitzt beispielsweise in der Klasse neben dem Kind und unterstützt es.

Diese Assistenzkräfte sollen künftig nicht mehr einem einzelnen Kind zugeordnet sein, sondern der Schule. Das hat der Senat am Dienstag beschlossen. In einem Konzept von Bildungs- und Sozialressort ist die Rede von einem Wechsel von individuellen zu systemischen Assistenzen. In der Praxis soll sich eine Assistenzkraft künftig nicht mehr ausschließlich um ein Kind kümmern, sondern für mehrere Kinder da sein. Hintergrund dafür ist auch der Fachkräftemangel in diesem Bereich. Träger wie der Martinsclub suchen seit Jahren permanent Personal für diese Aufgabe, zahlreiche Stellen können nicht besetzt werden. Durch das neue Modell sollen auch Kinder von der Unterstützung profitieren, für die bisher keine Assistenz gefunden werden konnte.

In dem Senatsbeschluss werden die Dimensionen des Personalmangels benannt: Zuletzt konnten 40 Prozent der Stellen für Schulbegleitungen nicht besetzt werden. In der Folge könnten 125 Grundschulkinder in Bremen, bei denen eine seelische Beeinträchtigung festgestellt wurde, nicht mit einer Assistenz versorgt werden, obwohl sie ein Recht darauf hätten.

Weniger Stigmatisierung

Bislang müssen Eltern ein langes, kompliziertes Antragsverfahren durchlaufen, um eine Assistenz für ihr Kind zu bekommen. Bis die Assistenzkraft ihre Arbeit aufnehmen kann, vergehen oft viele Monate. Durch die Systemumstellung soll das Verfahren für Eltern und Behörden künftig auch einfacher und effektiver werden. Die notwendige Unterstützung erfolge "am besten im sozialen Kontext der Klassengemeinschaft", durch eine gemeinsame Infrastruktur, sagt Bildungssenatorin Sascha Aulepp (SPD): "So kann Hilfe schneller und unbürokratischer erfolgen, und nicht zuletzt auch eine im Fall einer Einzelbetreuung mögliche Stigmatisierung verhindert werden."

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"Wir verlagern Geld aus dem individuellen Bereich an die Schulen", erläutert Bernd Schneider, Sprecher des Sozialressorts, auf Anfrage. "Man hat dann Kräfte vor Ort, die schon da sind und eingreifen können, um Kinder mit Bedarf zu unterstützen." Zusätzlich zu den systemischen Assistenzen soll es aber auch in Zukunft für Kinder, die dies brauchen, eine Option auf eine Einzel-Assistenz geben.

Pilotphase geplant

Zunächst wird sich von Ende August an nur an wenigen Bremer Schulen etwas ändern. In einer einjährigen Pilotphase wird das Modell der systemischen Assistenzen an drei benachbarten Grundschulen in Gröpelingen ausprobiert: An den Standorten Humannstraße, Auf den Heuen und Oslebshauser Heerstraße. Die Pilotphase soll begleitend evaluiert werden. Wenn sie gut läuft, soll das neue Modell dann auf alle städtischen Grundschulen ausgeweitet werden.

Perspektivisch soll zudem geprüft werden, ob die Assistenzen künftig statt bei verschiedenen freien Trägern direkt bei der Stadt angestellt werden könnten. Bisher ist der Martinsclub ein großer Arbeitgeber von Schul-Assistenzen, darüber hinaus gibt es verschiedene weitere Träger.

Vorerst erfolgt die Umstellung nur bei den Assistenzen für Kinder, denen eine seelische Beeinträchtigung attestiert wird. Das können zum Beispiel Kinder sein, die unter Angststörungen, Autismus oder Depressionen leiden und alleine nicht in der Schule klar kommen. Die Zahl der Kinder mit seelischer Beeinträchtigung ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Kosten für die Assistenzen dieser Kinder erhöhten sich folglich ebenfalls stark: Den Behörden zufolge wuchsen sie von rund 75.000 Euro im Jahr 2015 auf mehr als 15 Millionen Euro in 2021. Und das, obwohl bei Weitem nicht alle Stellen besetzt werden konnten.

Zuspruch von Inklusions-Befürwortern

Im Büro des Landesbehindertenbeauftragten befürwortet man das neue Modell: "Wir begrüßen grundsätzlich die systemische Ausstattung", sagt Sabine Petersen, juristische Referentin beim Behindertenbeauftragten. "Bei uns melden sich viele Eltern, denen die Assistenz für ihr Kind fehlt." Teils könnten Kinder ohne Begleitung nicht in die Schule gehen, teils sprängen Eltern ein und kämen mit in die Schulen: "Wir hoffen, dass man mit der systemischen Ausstattung mehr Kinder erreicht." Wichtig sei, den Ganztagsbetrieb an Schulen im Blick zu behalten – auch am Nachmittag bräuchten die Kinder eine Begleitung.

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„Die systemische Lösung ist generell einen Schritt in die richtige Richtung, weil die Schulen viel besser steuern können, welche Kinder Unterstützung benötigen und Assistenzen mehr im Schul-Team einbezogen sind", sagt auch Elke Gerdes, Vorsitzende des Vereins "Eine Schule für alle", die sich seit Jahren für die Inklusion einsetzt. Sie stellt aber auch klar: „Wenn die Personalressourcen nicht reichen, ist es egal, mit welchem Konzept man arbeitet, denn jedes System braucht ausreichend Personal, damit es überhaupt funktionieren kann.“

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