Osterfeuerberg. Michel hat eine Affäre mit Alice. Die attraktive Ärztin ist die Gattin seines besten Freundes Paul. Weder Paul noch Michels Frau Laurence sollen das Geringste von dem Techtelmechtel erfahren. Aber das wird deutlich komplizierter als geplant.
Florian Zellers Theaterstück „Die Wahrheit“ beginnt mit einer klassischen Boulevard-Konstellation. Das anzusehen, ist ein großer Spaß, doch dem Autor geht es um mehr: Er spielt mit dem Begriff der Wahrheit und deren praktischer Anwendung im Alltag, bis es auch dem Publikum schwindelig wird. „Von den Vorteilen, sie zu verschweigen, und den Nachteilen, sie zu sagen“ lautet der spöttisch-barocke Untertitel. Dieses Dilemma kann vermutlich jeder, der einmal mit einer Notlüge ertappt wurde, persönlich nachvollziehen.
Die französische Komödie ist die neuste Produktion des Union-Theaters. In diesen Tagen sind die Akteure und Akteurinnen dabei, Zellers allzu menschlichen Charakteren und deren brillanten Dialogen den letzten Feinschliff zu verleihen. Die Premiere naht, und für das Ensemble ist es doppelt aufregend: Zum ersten Mal bespielt das Union-Theater seine neue Heimatbühne in der Union-Brauerei.
„Die Wahrheit“ war im Jahr 2011 der Durchbruch für den damals erst 31-jährigen Florian Zeller, der in seiner Heimat ein Star der Theaterszene ist und dessen Stücke inzwischen auch am Londoner Westend und am New Yorker Broadway mit hochkarätig prominenter Besetzung aufgeführt werden. Die deutsche Premiere übernahm das Hamburger St.-Pauli-Theater, in der umjubelten Inszenierung spielten Herbert Knaup und Thomas Heintze die Rollen der beiden männlichen Protagonisten.
Der um keine Antwort verlegene Michel, Typ erfolgsverwöhnter Manager, ist aber auch eine Paraderolle für Ansgar Matuschak. Selbstverständlich haben sich Michel und Alice (Eva Gätjen) ein cleveres Alibi für ihr amouröses Wochenendabenteuer zurechtgelegt. Doch obwohl Michel seine Version der Wahrheit so überzeugend vertritt, dass er selbst an seine Aufrichtigkeit glaubt, scheinen Laurence (Maren Schulz) und Paul (Stefan Lüers) Verdacht zu schöpfen. Das Publikum darf beobachten, wie ein Lügenkonstrukt ins Wanken gerät, wie man sich im Ausredennetz peinlich verheddert und den Halt verliert. Es kann sich dabei auf Sprachwitz, Pointen und überraschende Wendungen gefasst machen. Was ehrlich Wahrheit ist, und was gelogen wie gedruckt – letztendlich erweist sich: So ganz sicher darf man sich dabei nie sein.
Im neuen Theater in der Union-Brauerei hat das Union Theater eine Bühne gefunden, die schon namentlich perfekt passt. Eine glückliche Fügung, erklärt Theaterleiterin Dagmar Schulz: Das Ensemble musste die vorherige Spielstätte an der Friesenstraße verlassen und ist dem Bremer Kriminal-Theater nach Osterfeuerberg gefolgt. Heimisch ist man in Walle aber schon lange. Das geräumige Kellergeschoss eines Firmengebäudes an der Hans-Böckler-Straße dient als Proberaum, Fundus, Requisitenkammer, Archiv und kreatives Wohnzimmer: An den Wänden hängen Theaterplakate, historische Bühnenfotos und Zeitungskritiken.
Im Ensemble vor und hinter der Bühne ist der Jüngste Anfang zwanzig, der Älteste in den Achtzigern. Sie sind die jüngste Generation einer Theatertruppe, die eine besondere Geschichte hat: Das Union-Theater entstand 1892 als „dramatische Abteilung der Union von 1801“, Bremens ältestem kaufmännischem Verein, und ist damit das „älteste Liebhabertheater Bremens“, wie man hier sagt. Die Gründerväter waren respektable Bremer Kaufleute und Bankdirektoren, die sich einen Spaß daraus machten, sich lustige Künstlernamen zuzulegen, und „den Klamauk der Zeit auf die Bretter zu bringen“, wie diese Zeitung anlässlich der Hundertjahr-Feier im Jahr 1992 erzählte. Anspruch und Niveau stiegen im Laufe der Zeit so weit, dass sich das Union-Theater zur „wohl renommiertesten Laienschauspieltruppe der Stadt“ entwickelte; auch das attestiert von einem Kritiker dieser Zeitung.
Zum Ensemble gehörten eine ganze Reihe namhafter Schauspieler und Sänger, die heute vergessen sind. Gut in Erinnerung ist aber nach wie vor, dass ein Abiturient namens Hans-Joachim Kulenkampff im Jahr 1939 bei der „Union“ seinen ersten Bühnenauftritt hatte. Seit 2009 wird das Union-Theater von einem eigenen Verein geführt.
Mit insgesamt drei jährlichen Inszenierungen erfreut das Union-Theater regelmäßig sein Publikum. Für die Auswahl der Stücke von Klassikern des Boulevards bis zu Zeitgenössischem ist der hauseigene Lesekreis zuständig. Tradition des Hauses ist auch, dass für die Regie ausgewiesene Profis engagiert werden, so wie aktuell Regisseur, Autor und Schauspieler Uwe Seidel, der zuvor unter anderem im Schnürschuh, im Packhaus sowie in Vegesack Theater machte. Diesen Luxus gönnt man sich.
Für sämtliche anderen rund 80 Vereinsmitglieder ist das Theater indes die pure ehrenamtliche Leidenschaft. In ihrem Alltag arbeiten sie in den unterschiedlichsten Branchen und Berufen. Aktive für die Bühne und die vielen Aufgaben rund um die Produktionen sind im Union Theater jederzeit willkommen. Doch zunächst hofft das Ensemble, dass Stammpublikum und die 500 Abonnenten den Weg in die neue Spielstätte finden, und dass in der Nachbarschaft von Walle und Findorff möglichst viele neue Fans hinzugewonnen werden können. Das Stück sei zum Kennenlernen wärmstens empfohlen.